■ Bill Clintons Besuch in China zeigt: Die ideologische Konfrontation ist in Asien nicht überwunden, sondern aktueller denn je
: Sozialismus mit Rückenwind

Als der Kalte Krieg in Europa zu Ende ging und der ursprünglich durch die russische Revolution initiierte Kommunismus in Schutt und Asche lag, schien die ideologische Konfrontation der Supermächte auch weltweit nicht länger als politisches Erklärungsmuster zu taugen. Optimisten wie Francis Fukuyama prophezeiten einen Siegeszug des bürgerlichen Liberalismus, Pessimisten wie Samuel Huntington witterten eine neue Konfrontation zwischen Fundamentalisten und Aufklärern. Doch keiner sprach davon, daß der alte politische Streit zwischen Moskau und Washington, der jahrzehntelang die internationale Politik bestimmte, bald ein neues Ebenbild in Asien finden könnte.

Wir wollen den Vergleich nicht überstrapazieren: Immerhin trafen sich die Präsidenten der neuerdings streitenden Weltmächte jetzt in Peking und erklärten sich zu Partnern statt zu Gegnern. Jiang Zemin und Bill Clinton betonten, daß die gemeinsamen Interessen ihrer Nationen wachsen und sich nicht etwa verringern. Auch scheinen beide Seiten heute gewillt, nicht den Fehler des Atomrüstungswettlaufs zu wiederholen, der den Kalten Krieg ad absurdum geführt hatte. Doch aufgrund der damit demonstrierten diplomatischen Vernunft zu behaupten, die ideologische Konfrontation in Asien sei ebenso aus der Welt wie in Europa, wäre ein schwerwiegender Fehler.

China sei ein sozialistisches Land, wiederholte der chinesische Partei- und Staatschef während seiner Pressekonferenz mit Bill Clinton am Samstag. Bis auf diese Feststellung am Rande, die scheinbar bei den wenigsten auf Interesse stieß, war der Auftritt der Präsidenten in vieler Hinsicht außergewöhnlich. Erstmals war es einem westlichen Staatsoberhaupt erlaubt, seine demokratischen Ideen ungehindert vor dem großen chinesischen Fernsehpublikum darzustellen. Auch die Art und Weise, wie Jiang und Clinton ihre unterschiedlichen politischen Auffassungen offen darlegten, bezeugte eine gewissen Zivilisiertheit im Umgang miteinander. Und doch ist der Systemkonflikt zwischen China und Amerika damit noch lange nicht ausdiskutiert. Vordergründig geht es dabei um die Frage der Menschenrechte. Verärgert durch die Festnahme von vier chinesischen Dissidenten noch vor dem Eintreffen Clintons in Peking, hatte der amerikanische Sicherheitsberater Sandy Berger Tacheles geredet: Chinas Menschenrechtsbilanz sei schrecklich und die einer autoritären Nation. Kaum einer im Westen würde ihm hier widersprechen. Die Fakten sprechen für sich: Vom Gulag der Kulturrevolution über das Massaker auf dem Platz des Himmlischen Friedens bis zu den andauernden Verhaftungen tibetischer Mönche – ganz gleich, wer in Peking regierte, die Menschenrechte wurden im Zweifelsfall mit Füßen getreten.

Die chinesische Antwort auf derartige Anschuldigungen ist in der Regel ausweichend und defensiv. Auch am Samstag betonte Jiang das in der chinesischen Verfassung verankerte Recht auf Meinungsfreiheit, von dem jeder weiß, daß es nur auf dem Papier existiert. Er zitierte die Verbesserungen im chinesischen Rechtssystem, deren Tendenz gelegentlich auch im Westen gelobt wird. Das klang alles in allem wenig überzeugend. Doch an einem Punkt ging Jiang in die Offensive. Als er die ungleichen Jahreseinkommen von Chinesen und Amerikanern verglich und damit begründete, daß China dem „Menschenrecht auf eine sichere Existenz“ die höchste Priorität einräume.

Mit diesem Argument mündet die Menschenrechtsdebatte unmittelbar in den spezifisch asiatischen Systemkonflikt zwischen Sozialismus und Kapitalismus. Gegenüber Marx, der den Sozialismus stets als höchste Enwicklungsstufe der Menschheit betrachtete, hatte Mao schon früh die vor dem Hintergrund des chinesischen Massenelends konsequente Gegenthese aufgestellt, daß nicht der gesellschaftliche Überfluß, sondern die Armut die beste Motivation zum Aufbau des Sozialismus bilde. Mit anderen Worten: Der proletarischen Revolution von 1917, die den Kapitalismus überholen wollte, setzte Mao die Bauernrevolution entgegen, die mit der gerechten Verteilung des Bodens erst einmal den Massen zu einem menschenwürdigen Dasein verhelfen sollte.

Das Ziel einer Landreform, die jedem Bauern ein Stück Feld überließ, wurde jedoch unter Mao, der sich nach Gründung der Volksrepublik schnell vom russischen Modell verführen ließ, nie verwirklicht. Erst Deng Xiaoping kam nach seiner Machtübernahme 1978 darauf zurück und schuf damit die bis heute wirksame Legitimationsgrundlage für den chinesischen Sozialismus: Immer noch leben zwischen 800 und 900 Millionen Chinesen auf dem Land. Für sie bietet das durch die Dengsche Landreform jeder Familie zugesicherte Stück Boden eine elementare Form der Existenzsicherung. Zwar reicht es meist nicht, um die Angehörigen das ganze Jahr über zu ernähren. Doch für die Mehrheit des Volkes bietet es den letzten sozialen Schutz vor dem harten Wind der kapitalistischen Reformen, der heute die chinesischen Städte durchweht.

Insofern hat sich das sozialistische System als durchaus lernfähig erwiesen. Denn nicht aus den städtischen Eliten, sondern aus der Masse der Bauern waren in der Vergangenheit die Revolten gegen die Herrschenden hervorgegangen. Seit dem 16. Jahrhundert waren Bauernaufstände in China alle fünfzig Jahre erfolgreich – zuletzt unter Mao. Doch heute wendet sich die Landbevölkerung nicht gegen das Regime – aus gutem Grund.

Diese Form des Bauernsozialismus gilt es also mitzudenken, wenn der Westen China Reformen empfiehlt und sich in der Systemdebatte überlegen dünkt. Jedenfalls scheint die chinesische Führung darauf zu vertrauen, daß ihr das eigene Volk nicht nur schlechte Noten erteilt – sonst wäre Jiang wohl nicht im Fernsehen gegen Clinton angetreten.

Dabei kommen die schlechten wirtschaftlichen Rahmenbedingungen Peking auf gewisse Art und Weise entgegen. Denn die Asien- Krise hat die bisher dominierende Schönwetterdebatte um asiatische vs. westliche Werte vom Tisch gewischt, um erneut die Frage der sozialen Gerechtigkeit zu stellen. Da es dabei in China angesichts des zu erwartenden Wachstumsrückgangs wieder ganz konkret um das materielle Überleben der Massen gehen wird, kann es durchaus sein, daß einige, schon lange zu den Akten gelegte maoistische Ideen wieder in Mode geraten. Georg Blume