Während die Grünen den Ausstieg aus der Atomenergie nach fünf Jahren abgeschlossen haben wollen, sieht der SPD-Kanzlerkandidat Gerhard Schröder bis dahin noch viel Zeit: Ein Vierteljahrhundert könne es schon noch dauern, sagte er am Wochenende Von Jürgen Voges

Rot-grüne Fristenlösungen

Wenn es um den Atomausstieg geht, ist für den sonst so fixen SPD- Kanzlerkandidaten Gerhard Schröder auch ein Vierteljahrhundert keine lange Zeitspanne mehr. Eine SPD-geführte Bundesregierung werde „die Nutzung der Atomkraft so schnell wie möglich beenden“ – so versprach es noch das im April in Leipzig verabschiedete SPD-Bundestagswahlprogramm. Möglich, so präzisierte Schröder am Wochenende in Berlin, werde ein Ausstieg erst „in 20 bis 25 Jahren“.

Nach dem Willen von Bündnis 90/Die Grünen soll der Atomausstieg, bei dem sich die Grünen sich mit einer Zweidrittelmehrheit der Wahlbürger einig wissen, im kommenden Bundestagswahlkampf zum Zugpferd für ein rot-grünes Regierungsbündnis in Bonn werden. Über ein im hessischen Umweltministerium formuliertes Ausstiegsgesetz, das die „Nutzung der Atomenergie zum Zwecke der Energiegewinnung und der großtechnischen Forschung sicher und geordnet beenden“ will, brüten seit einem Jahr nicht umsonst Runden grüner Ministerinnen und Staatssekretäre aus den rot-grünen Landesregierungen ebenso wie eine Arbeitsgruppe zum Atomausstieg der Grünen-Bundestagsfraktion, in der auch Vertreter von Bürgerinitiativen zugelassen sind.

Schröders Äußerungen zeigen allerdings: Auch beim Atomausstieg werden die Grünen ihren Bonner Wunschpartner in Koalitionsverhandlungen erst zum Jagen tragen müssen. Ein Umstand, den etwa die Grünen-Fraktionsvorsitzende im niedersächsischen Landtag mit einem weinenden und lachenden Auge sieht: „Schröders Vierteljahrhundertperspektive macht auch klar“, so Rebecca Harms, „wer wirklich aussteigen will, muß eben Grüne wählen.“

Der Grünen-Entwurf eines Ausstiegsgesetzes, für den der hessische Umweltstaatssekretär Rainer Baake verantwortlich zeichnet, sieht inzwischen ein Abschalten aller 19 bundesdeutschen Reaktoren spätesten fünf Jahre nach Inkrafttreten des Gesetzes vor. Ein Ausstiegsgesetz will im Prinzip auch die SPD, allerdings eines, das den Atomkraftbetreibern keine Abschaltfristen verordnet, sondern „konsensual angelegt ist“, wie es Schröders Sprecher Uwe-Karsten Heye ausdrückt.

Schröder will auf „Zubau“ verzichten

Der Atomausstieg werde einer der Punkte des Programms für das erste Jahr einer SPD-gerführten Bundesregierung werden, das Gerhard Schröder Mitte August vorstellen wolle, kündigt Heye an. Im Vordergrund werde dabei der Umbau der Energieversorgung stehen. Sinnvoll sei der Ausstieg nur, „wenn der Konsens der Weg ist“. Gerhard Schröder selbst hatte schon kürzlich vor dem Bundesverband der Industrie (BDI) einem schnellen Ausstieg abgeschworen. Dort verlangte er zwar, „eine Option auf eine kernenergiefreie Zukunft“, versicherte aber gleichzeitig, daß „heute und morgen jener Anteil, den die Kernenergie an der Stromerzeugung hat, nicht sofort zu ersetzen ist“.

Ein Ausstieg im Konsens, wie ihn Schröder will, heißt vor allem, daß keine neuen Atomkraftwerke mehr gebaut werden, daß man „auf Zubau in diesem Bereich verzichtet“, wie es der SPD-Kanzlerkandidat vor dem BDI ausdrückte. Ansonsten solle man kommende Konsensbemühungen „nicht mit Vorfestlegungen belasten, um erneute Schwierigkeiten, wie etwa gerichtliche Auseinandersetzungen, zu vermeiden“, sagt Schröder- Mann Heye. Die Grünen sollten genau darüber nachdenken, welche Konflikte sie da ertragen können, so Heye mit Blick auf deren schnelles Ausstiegsgesetz.

EVU verlangen wirtschaftlichen Ausgleich

Auch Energieversorger, wie die hannoversche PreussenElektra, die immerhin die „Kernkraft nicht als Selbstzweck oder Weltanschauung“ ansehen, verlangen „einen wirtschaftlichen Ausgleich, falls die Politik uns per Gesetz zwingt, Kernkraftwerke vor der Zeit stillzulegen“. Milliardensummen, um den Energieversorgungsunternehmen (EVU) den Ausstieg abzukaufen, möchten aber weder SPD noch Grüne zur Verfügung stellen. Entschädigunsgfrei würde die PreussenElektra die von den Grünen angestrebte Befristung aller AKW-Betriebsgenehmigungen auf fünf Jahre nicht akzeptieren. „Gegen einen solchen enteignungsgleichen Eingriff müßten wir uns juristisch zur Wehr setzen, da wir aktienrechtlich verpflichtet sind, wirtschaftlichen Schaden von unserem Unternehmen abzuwenden“, sagte PreussenElektra-Sprecher Josef Nelles zur taz.

Daß ein Ausstieg zu juristischen Auseinandersetzen mit den EVU führen kann, wissen allerdings die Grünen schon längst. Nach ihrem Ausstiegsgesetz sollen die Betreiber bei der Stillegung ihrer Anlagen keinen Pfennig Entschädigung erhalten, obwohl das Abschalten fünf Jahre nach Inkrafttreten des Gesetzes vollendet sein soll. „An dieser verfassungsrechtlichen schwierigen Frage habe wir lange Zeit gearbeitet“, sagt der hessische Umweltstaatssekretär Rainer Baake. Es sei ein Ausstiegsgesetz zu formulieren gewesen, daß eben am Ende nicht vor dem Bundesverfassungsgericht scheitert.

„Wir mußten davon ausgehen, daß die Betreiber in jedem Falle wegen einer Verletzung ihrer Eigentumsrechte in Karlsruhe klagen“, sieht sich Baake gut gewappnet. Wegen der verfassungsrechtlichen Probleme hat das Umweltministerium in Wiesbaden sogar ein eigenes Rechtsgutachten erstellen lassen. Darin kommen die Professoren Alexander Roßnagel und Gerhard Roller zu dem Schluß, daß der Gesetzgeber sehr wohl nachträglich in bestandskräftige Betriebsgenehmigungen von Atomkraftwerken eingreifen kann, auch ohne eine Entschädigung zu zahlen. Für diesen Fall verlange die bisherige Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts allerdings „angemessene Übergangsfristen“, sagt Baake. Den Betreibern müsse etwa die Möglichkeiten gegeben werden, ihre Reaktoren zu amortisieren. Selbst den alten AKWs, die längst abgeschrieben sind und schon mehr als 25 Jahre auf dem Buckel haben, will das grüne Ausstiegsgesetz aus verfassungsrechtlichen Gründen deswegen noch eine Schonfrist von einem Jahr gewähren.