Manche sind musikalisch, andere singen nie

■ Eine wundersame Loseblattsammlung mit Beiträgen von Paten der Bonner Biennale

Anthologien sind ja eine ziemlich verklemmte Angelegenheit. Texte tanzen vor, wollen dann aber doch nicht, daß man genau hinsieht, und schlüpfen schnell wieder von der Bühne. Eine Glanzpapier- Veranstaltung für Nichtleser, ein Themenabend zwischen Buchdeckeln. Daß buchhandelsübliche Anthologien ein vergebliches Genre sind, merkt man beispielsweise, wenn man sich einer Loseblattsammlung der Bonner Biennale hingibt, die „37 Texte, Notizen, Kommentare, Gedichte, Szenen und Essays der Patinnen und Paten“ enthält und die – man merkt es schon am Titel – die zur Regel notwendige Ausnahme darstellt.

Die Bonner Biennale, das Festival europäischer Dramatik, das am Sonntag zu Ende ging, funktioniert durch ein ausgeklügeltes Patensystem. Renommierte Dramatiker aus diesmal neununddreißig Ländern schlagen Werke noch nicht so renommierter Kollegen vor, woraufhin die Biennale-Leitung anreist (sogar nach Estland oder Island), um sich eine Aufführung dieses Stückes anzusehen. Und die Produktion einlädt oder nicht. Die Biennale-Leitung sind Manfred Beilharz als Leiter des Schauspiels Bonn, der deutsche „Pate“ Tankred Dorst und die Festivalmacherin Hannah Hurtzig. Letztere hat sich in diesem Jahr ein umfängliches und produktives Rahmenprogramm ausgedacht.

Dazu gehörte nicht nur eine Schreibwerkstatt für junge Autoren unter der Leitung von Mark Ravenhill oder die Idee, daß Festivalbesucher in ein paar ruhigen Minuten Minidramen verfassen und von einem Bauwagen vor dem Festivalzelt aus direkt ins Netz speisen, sondern eben auch die Bitte an die Paten und Patinnen, selbst einen Text beizusteuern. Über Theater oder sonstwas. Und da es sich bei den sogenannten Paten um „feinfühlige Wesen“ handelt, wie Hannah Hurtzig in einem zärtlichen Vorwort schreibt, „meist wohlerzogen und tapfer, manche sind sehr musikalisch, andere singen nie“, haben auch ihre in aller Eile übersetzten und am Ende des Festivals unprätentiös dargebotenen Texte etwas so souverän Vorläufiges und eher zu Arbeitszwecken als zum Vorzeigen Notiertes, daß man sie alle liest, und zwar sofort.

In gebotener Kürze informiert etwa Petros Markaris über die Besonderheiten des griechischen Theatersystems, erklärt der Engländer Mark Ravenhill, warum er sein geschichtenerzählendes Theater für subversiv hält, und blickt ein Isländer namens Arni Ibsen eher touristisch auf das Theater seiner Insel, während Oyvind Berg aus Norwegen, ein Rechenexempel der norwegischen Baktruppen aufgreifend, die Erscheinungsjahre von Henrik Ibsens Dramen interessanterweise zur Zahl 50.544 addiert.

Gedichte, Feuilletons, Stückauszüge meist als Originalbeiträge. Von Artaud inspirierte Esoterik bei Nenad Prokic aus Jugoslawien, Gedanken zur jahrzehntelangen auch kulturellen Dominanz Rußlands von Alvydas Bausys aus Litauen, und der Moldawier Constantin Cheianu schreibt einen „Brief an einen deutschen Freund“: Helmut, der neulich Moldawien nicht auf der Landkarte gefunden hat. Kurzanalysen, Aphorismen, Polemiken, mal fast amtssprachlich nüchtern, dann wieder von poetischer Originalität. Eine wundersame Sammlung, nach deren Lektüre man ahnt, was vor allem „Europa“ ist: das, was man alles noch nicht kennt. Petra Kohse

Bei Interesse im Schauspiel Bonn nachfragen: Tel.: (0228) 72 83 71