Friedhöfe und Flüchtlinge

An Afghanistans Kriegsfront blüht der kleine Grenzverkehr. Heute fliehen mehr Menschen in das Taliban-Gebiet als in den von ihren Gegnern gehaltenen Norden  ■ Aus Kabul Bernard Imhasly

Ein grüner Gürtel zieht sich entlang des Tagab-Flußes das Tal hinauf. Es ist nicht nur der Kontrast zur ihn umgebenden Gebirgswüste, die ihn in einen Paradiesgarten verwandelt. Ein ausgeklügeltes Bewässerungssystem erlaubt eine so dichte Vegetation, daß die Blätter der Fruchtbäume – Granatäpfel, Maulbeeren, Kirschen, Aprikosen – ein für die Sonne undurchdringliches Dach bilden. Doch selbst die Früchte, die schattige Kühle und die Knaben, die sorglos mit ihren Steinschleudern am Wasser sitzen, täuschen nicht darüber hinweg, daß auch das Tagabtal das Schicksal des übrigen Landes teilt. „Ihr seid nur am Krieg interessiert“, sagt – ausgerechnet – der lokale Taliban-Kommandant Gul Rahman. „Aber wißt ihr, daß es im ganzen Tal keine einzige Klinik für Frauen gibt?“ Bei der selbstverständlichen strengen Geschlechtertrennung heißt dies, daß die landesweit gültige Statistik auch hier Realität ist: Im ländlichen Afghanistan stirbt laut UNO jedes vierte Kind unter fünf Jahren, stirbt eine Mutter vor ihrem 40. Geburtstag, ist jedes dritte Kind unterernährt.

Am unteren Talende von Tagab liegt ein großer Stausee mit dem Wasserkraftwerk von Sarobi. Es produziert 20.000 Kilowattstunden – ein Fünftel der installierten Kapazität –, und alle fließen nach Kabul. Tagab hat keinen Strom, und die Straße ist so schlecht, daß ein Bus acht Stunden für die hundert Kilometer nach Kabul braucht und hunderttausend Afghanis kostet, die Hälfte eines Monatslohns. Doch auch die Ursachen für fehlende Spitäler, Straßen und Elektrizität sind im Tal zu finden. Entlang der Piste, die den Grüngürtel von der baumlosen Bergflanke trennt, reiht sich Friedhof an Friedhof. Zuerst sind die Steinplatten im Geröll nicht zu erkennen. Erst allmählich ist ein Muster wahrzunehmen – eine Platte am Fußende, eine am Kopf, bei neuen Gräbern Fetzen von weißen und grünen Wimpeln darüber. Einmal wahrgenommen, sieht man plötzlich nur noch Friedhöfe. Auf dem Rückweg kann man 97 zählen, jeder mit 100 bis 500 Gräbern.

Fünf Kilometer vor dem Talende – einer sanft ansteigenden Talsperre – geht es nicht mehr weiter. In Landa Khel beginnt das Niemandsland, vom Gegner hinter dem Paß vermint. Es ist die Frontlinie der Taliban. Hier haben sie den letzten Friedhof noch besonders ausgeschmückt: Mitten zwischen den Steinplatten steht ein T-54-Panzer, das Rohr zum Paß gedreht, das aufgesetzte MG seitlich die Felsen hinauf. Die vielen Wimpel auf den Gräbern zeigen, daß es, wie der stellvertretende Kommandant Agha Mohammed mitteilt, ein „aktiver“ Friedhof ist, der noch immer Tote aufnimmt. Die letzten zehn seien zehn Tage zuvor beerdigt worden. Und er zeigt zum Paß, an dessen Flanke ein schwarzer Punkt erkennbar ist – die Reste eines gepanzerten Mannschaftswagens, der auf eine Mine gefahren war.

Agha Mohammed sieht aus wie der typische Taliban. Wenn er, das Gewehr schwingend, laut und mit scharfem Blick den Fotografen zurechtweist, sobald dieser seine Kamera hervorholt, scheint er dieses Bild auch zu bestätigen. Laut einem Dekret von Mullah Omar, dem „Emir der Gläubigen“, ist jede Abbildung eines Lebewesens – sei es eine verschleierte Frau oder ein Lastesel – unislamisch und daher verboten. Aber Agha Mohammed zeigt bald, daß auch ein Mullah nicht gegen Eitelkeit gefeit ist. Fünf Minuten nach der Standpredigt beordert er den Fotografen, ihn oben auf dem Panzerturm posierend abzulichten.

Im Taliban-Land sind auch „akustische Bilder“ verboten. Das über den Weg gespannte Seil, das das Ende der Fahrt signalisiert, ist mit Tausenden Metern Tonband umwickelt, die in der Sonne glitzern. Es sind die Überreste von Musikkassetten, die den Autobusfahrern abgenommen wurden. Die Busse – meist ausrangierte Fahrzeuge aus Deutschland mit Originalaufschriften wie „Becker Reisen“ oder „Schauinsland“ – sind an der Geröllhalde aufgereiht und warten auf Kunden. Die Kampffront zwischen den Taliban und ihrem Gegner Ahmed Schah Massud hindert die Afghanen offensichtlich nicht daran, sie als Flucht- oder Handelsroute zu benutzen.

Über tausend Personen durchqueren täglich das verminte Niemandsland. Die wartenden Busse zeigen, daß die meisten vom Norden in das Taliban-Gebiet geflüchtet sind. Vor einem Jahr, meint ein Träger, flohen noch viele vor den Taliban in den Norden. Doch die ständigen Kämpfe zwischen „befreundeten“ Kommandanten der Nördlichen Allianz ließ sie den religiösen Fanatismus der Taliban der Unsicherheit über das eigene Überleben vorziehen. Die Träger aus dem Dörfchen Landa Khel können sich so ein Zubrot verdienen. Manche haben sich einen Schubkarren zugelegt, in dem sie die Habseligkeiten der Flüchtlinge den Paß herunterbringen.

Leer müssen sie die Schubkarren nicht wieder zum Paß hinaufschieben. Kommen aus einer Richtung Flüchtlinge, fließen in die Gegenrichtung Handelsgüter. Flüchtlinge bedeuten Krieg, der bewirkt Güterknappheit und hohe Preise. Seitdem die Warlords im Norden wieder übereinander herfallen, hat sich an der Tagabfront ein kleiner Grenzverkehr etabliert. Jeder Mann, dem das gesenkte Tonbandseil den Weg freigibt, transportiert mindestens einen Sack Zucker oder Mehl auf dem Rücken oder in Schubkarren. Trotz der Knappheit in Kabul sind diese Güter im Norden der Front 40 Prozent teurer. Sie lohnen die Mühsal und das Risiko des Frontwechsels, den Wegzoll eingerechnet, den ihnen Kommandant Amir Hadi auf der anderen Seite abnimmt. „Wir erpressen sie nicht wie die da oben“, sagt der Taliban Agha Mohammed stolz. Dafür requirieren sie die Musikkassetten. Doch wie beim Fotografieren ist die Kontrolle auch hier durchlässig. Auf der Rückfahrt überholt uns ein Bus. Aus seiner Staubwolke sind Fetzen von Musik zu hören.