Zur Typologie des zeitgenössischen Spießers (Teil 2) Von Joachim Frisch

Als Benutzer öffentlicher Verkehrsmittel vergeht für mich kein Tag, an dem ich nicht Gespräche wie dieses miterleben muß: Herr A., das Hamburger Abendblatt unterm Arm, betritt die S-Bahn, sieht Herrn B., der die Hamburger Morgenpost liest, begrüßt ihn und setzt sich neben ihn. Herr B. rollt die Mopo ein, obwohl er lieber weiterlesen würde, doch das wäre unhöflich gegenüber Herrn A., denkt er. Herr A. denkt komplementär und beginnt eine Unterhaltung mit Herrn B., statt das Abendblatt zu lesen, was er viel lieber täte. Da nun weder Herr A. noch Herr B. am frühen Morgen schon Gedanken mit sich herumtragen, deutet Herr A. auf die Graffiti an der Betonstützmauer neben dem S-Bahnhof und sagt zu Herrn B.: „Das ist jetzt Kunst. Dafür zahlen wir Steuern, die Künstler kriegen ja jetzt Geld vom Staat.“ In der gestrigen Ausgabe des Abendblattes hat B. nämlich gelesen, daß Graffiti- Künstler öffentliche Aufträge für Gebäudefassaden erhalten haben. Schlagfertig kontert Herr B., der etwas Ähnliches in der Mopo lesen mußte: „Das können wir auch, da gehen wir jetzt auch nicht mehr arbeiten und werden Künstler.“ Beide betonen jeweils übertrieben die erste Silbe des Wortes „Künstler“.

Mir, der ich morgens nicht nur keine Gedanken, sondern auch keine Geduld, dafür aber viel schlechte Laune mit mir herumtrage, wird übel angesichts dieser Mischung aus Spießertum und Witzischkeit. Ich schließe die Augen und träume von einem Staat, in dem ein Ironieverbot für solche Scherzkekse herrscht. Wenn man ihnen schon nicht für immer das Maul stopfen kann, so wäre es doch eine enorme Verbesserung der Lebensqualität, wenn man wenigstens das unselige „Das kann ich auch, ich bin auch Künstler...“ aus der Welt schaffen könnte, mit dem der Scherzkeks seit Picassos kubischer Phase gegen alles wettert, was nicht seinem beschissenen röhrenden Hirschen oder seinem neokitschigen Kunsthandwerk ähnelt. Gerade das, was Graffiti an sich sympathisch macht.

Der Staat, von dem ich träume, verpflichtet Unternehmen wie die Deutsche Bahn AG nach Artikel 14 (2), eintönige Betonstützmauern und langweilige Züge lustigen Sprayern zur Verfügung zu stellen, ihnen Farbe sowie mindestens zwei Mahlzeiten pro Tag und reichlich Getränke zu spendieren. Eigentum verpflichtet nun mal, und wer seinen Kunden so viele Millionen abknöpft, der soll nicht mosern, wenn einige dieser Kunden auf eigene Kosten die unansehnlichsten Flächen dieses Unternehmens verschönern, sondern er sollte diese kreativen Menschen unterstützen.

Der ironische Spießer aber, für den eine widerwärtige graue Betonwand völlig in Ordnung, dem eine bunt besprühte aber ein Dorn im Auge ist, und zwar nur deshalb, weil sie unbefugt besprüht wurde, darf in diesem netten Staat nichts von dieser Pflicht der Unternehmen erfahren, damit er sich weiter täglich über das seiner Ansicht nach unbefugte Geschmier ärgert. Weil aber ein Ironieverbot für Scherzkekse wie ihn gilt, muß er seinen Ärger runterschlucken und erstickt irgendwann daran, so daß wenigstens die Landplage der spießigen Scherzkekse bald ein Ende hat. Ein trockenes Bellen reißt mich aus meinem Tagtraum. Herr B. quält sich mit einem ansehnlichen Hustenanfall.