Natürlich ist es das Schicksal

Englands Zeit des Schmerzes geht nach der sentimentalen Nacht von St. Etienne und dem Achtelfinal-Aus gegen Argentinien wie erwartet auch im 33. Jahr weiter  ■ Von Peter Unfried

St. Etienne (taz) – Die gute Nachricht zuerst: Die Engländer sind weg. Das freut die WM-Veranstalter. Ihre Anhängerschaft hat nämlich nicht nur Angst und Schrecken in ganz Frankreich verbreitet, sondern auch durch die militärische Aufrüstung enorme Extrakosten verursacht.

Die richtig schlechte Nachricht allerdings kommt jetzt: Die Engländer sind weg. Das Turnier hat damit eine wirklich aufregende Mannschaft mit einigen außergewöhnlichen Fußballern verloren. Im nachhinein betrachtet muß man sagen: Die Art und Weise, wie sich das am Dienstag in St. Etienne vollzogen hat, war eigentlich konsequent. Es passierte so, daß nun nach dem Popsong „Three Lions“ auch die mittlerweile 32jährige Geschichte remixt und fortgeschrieben werden muß – oder kann. „Alles“, sagte der frühere Nationaltrainer Bobby Robson, „endete damit, daß Herzen brachen.“

Und wie, kann man da nur sagen. Weil das natürlich im Elfmeterschießen verlorene WM-Achtelfinale gegen Argentinien (2:2, 3:4) die Herzbrüche der Geschichte potenziert, ist es auch zwangsläufig eine noch sentimentalere Geschichte als sonst. Wer ihr melancholy man ist, fällt schwer zu sagen. 1996 war es klar Gareth Southgate, der den entscheidenden Elfmeter vergab. 1990 war es Paul Gascoigne – obwohl Waddle und Pearce die Elfer verschossen. 1986 war die Geschichte weniger melancholisch, als die Engländer mit Maradonas offensichtlichem Unrecht („The Hand of God“) weiterleben mußten.

Diesmal bieten sich mehrere an: Der bitter enttäuschte Trainer Glenn Hoddle, der bewiesen hat, daß England auch oder gerade ohne Paul Gascoigne Fußball spielen kann. Der Kapitän und Weltklassestürmer Alan Shearer, der sich als rechter Verteidiger verbrannte und am Ende versonnen im Anstoßkreis den jubelnden Argentiniern nachsah. Der Koordinator Paul Ince, der 115 Minuten einen Ball nach dem anderen gewann, und am Ende völlig erschöpft seinen Elfmeter verschoß. Der andere Fehlschütze David Batty, der noch nie vorher einen geschossen hatte. Der erstaunliche Michael Owen, der mit seinem Tor die Gesetze des Spiels widerlegte.

Wie man seit gestern weiß, läuft es mehr auf einen vermeintlichen Schurken hinaus: David Beckham ist der Mann, dessen Platzverweis in den nächsten Tagen, Jahren und Jahrtausenden diskutiert, beklagt und verflucht werden wird.

„Ich mache kein Hehl daraus, daß uns das das Spiel gekostet hat“, sagte Hoddle. Andere formulieren das weniger fein, und so kann man sagen, daß Beckham (23), ein junger Mann, bei dem man um den Begriff Popstar nicht herumkommt, weiter Würze in sein Leben gebracht hat. Diesmal welche, auf die er wahrscheinlich gern verzichtet hätte. Hoddle hatte ihn wegen angeblicher Focussierung auf ein Spice Girl bei der WM zunächst auf die Bank verbannt, dann auf medialen Druck und wegen Kreativdefiziten eigens eine neue Position im zentralen Mittelfeld für ihn gefunden. Als Beckham nach 47 Minuten gefoult am Boden liegend, seinen Fuß in Simeones Wade zucken ließ, mußte er gehen. Englands Angriffsfußball war erledigt.

Das Unangenehme daran für den neutralen Betrachter: Damit war auch ein bis dahin hochklassiges Spiel kaputt, das Hoddles Team in der ersten Halbzeit als Punktsieger gesehen hatte.

Was Englands Sache betrifft, kann man neben Beckhams Platzverweis zwei weitere entscheidende Momente anführen: Seamans Übereifer gegen Simeone in der Anfangsphase, der Batistutas Elfmetertor zur Folge hatte; Schläfrigkeit der von Adams organisierten Abwehr unmittelbar vor der Halbzeit, die es Zanetti erlaubte, nach Veróns Freistoßtrick zum 2:2 auszugleichen.

Mit etwas Distanz betrachtet, sind das gute Argumente, zu folgern, Hoddles vielversprechendes Team sei nicht bloß an Beckham gescheitert oder daran, daß Campbells Kopfball nicht als Tor anerkannt worden war. Man hatte das Gefühl, als sei das spektakulär junge Team mit einem 18- und vier 23jährigen zwar bereit, mit seiner Mischung aus Tempo und einiger Kreativität selbst ein abgeklärtes und angeblich hochorganisiertes Team wie Argentinien zu überrennen – aber noch nicht balanciert genug für ein ganzes WM-Turnier.

Ohne jetzt allzu pilcheresk werden zu wollen: Englands Fußballer, mehr als jene Argentiniens, haben vielleicht eben deshalb dieser WM ein wirklich mal bemerkenswertes Spiel hinterlassen. Man kann vielleicht erzählen, daß nicht zufällig nach Mitternacht alle zu ihren Mobiles griffen und die Worte hineinraunten: „Fantastischer Fußball“. Es war ein ehrfurchterregendes Duell Herz gegen Verstand. Argentiniens Trainer Daniel Passarella blieb bei seinem kühlen „Bürofußball“ (The Guardian), ließ nicht angreifen, sondern die dezimierten Engländer laufen bis zum letzten Schweißtropfen.

Später lobte er die „Leidenschaft“ des Gegners. „Wir verteidigten wie die Löwen“, fand Hoddle. Er hätte kein besseres Bild finden können. Man merkt schon: Es war ein Fußballspiel, bei dem man dabeigewesen sein möchte. Am Ende gehörte die Nacht Argentinien, die Geschichte aber England. „Ich weiß nicht“, fragt sich Hoddle nun völlig fertig, „warum das wieder gegen uns lief.“ Er wisse nicht, behauptete der Trainer, „ob es Schicksal war oder nicht.“ Hoddle war als Spieler dabei, als Maradona die Hand ausfuhr. Auch auf dem Hemd, daß er in St. Etienne trug, waren drei Löwen. Er muß die Wahrheit ahnen: Natürlich ist es Schicksal.

England: Seaman – Gary Neville, Adams, Campbell – Anderton (97. Batty), Beckham, Ince, Scholes (79. Merson), Le Saux (71. Southgate) – Owen, Shearer

Zuschauer: 36.000 (ausverkauft)

Tore: 1:0 Batistuta (6./Foulelfmeter), 1:1 Shearer (10./ Foulelfmeter), 1:2 Owen (16.), 2:2 Zanetti (45.)

Rote Karte: Beckham wegen Tätlichkeit (47.)

Argentinien: Roa – Ayala, Vivas, Chamot – Zanetti, Simeone (91. Berti), Verón, Almeyda – Ortega – López (69. Gallardo), Batistuta (69. Crespo)