Windelweicher EU-Verbraucherschutz

■ EU-Kommission erlaubt weiterhin krebserregende Stoffe im Kinderspielzeug. Einzelstaaten dürfen eigene Schutzgesetze erlassen

Brüssel (taz) – Einige Babyartikel enthalten zwar krebserregende Stoffe, räumt die EU-Kommission ein, aber man wisse noch zuwenig Genaues. Die EU-Kommissare verzichten deshalb darauf, die Artikel aus dem Verkehr zu ziehen. Sie empfehlen lediglich den EU- Staaten, sich wissenschaftlich schlau zu machen und dann geeignete Maßnahmen zu ergreifen.

Mehrere Monate brauchte die EU-Kommission für diese windelweiche Entscheidung, die von der europäischen Spielzeugindustrie begeistert aufgenommen wurde. Vor allem beim EU-Industriekommissar Martin Bangemann hatten die Lobbyisten viel Verständnis gefunden. Sir Leon Britton, zuständig für die Handelsbeziehungen, warnte außerdem davor, den US-Hersteller Martell zu verärgern. Verbraucherschutz-Kommissarin Emma Bonino sind dann offensichtlich die Argumente ausgegangen.

Die Begründung der Kommissionsentscheidung ist an Verwegenheit kaum zu übertreffen. Daß die Weichmacher in PVC-Kinderspielzeug, sogenannte Phtalate, Hormone verändern und Krebs auslösen können, ist wissenschaftlich unumstritten. Doch gefährlich seien diese Stoffe nur, so die EU- Kommission, wenn Kinder allzu ausdauernd daran nuckeln. Bisher gebe es keine zuverlässige wissenschaftliche Methode, um festzustellen, wie viele Phtalate von Kindern aufgenommen werden.

Im Kern geht es um Beißringe, Babyrasseln und rund zehn andere Artikel, die von Kleinkindern erfahrungsgemäß in den Mund genommen werden. Hersteller sind vor allem die Firmen Chicco und Martell. Die dänische Lego- Gruppe hat schon vor eineinhalb Jahren auf Latex umgestellt, weil die dänische Regierung Phtalate in diesen Produkten verboten hat. Dänische Wissenschaftler waren zu dem Schluß gekommen, daß sich die Phtalate durch Speichel lösen und von Babys in hoher Konzentration verschluckt werden. Nach Angaben der EU-Kommission fanden Wissenschaftler in anderen Ländern zwar auch Phtalate im Kinderspeichel, aber in anderer Konzentration. Solange es keine einheitliche Methode gebe, sei ein EU-weites Verbot nicht zu verantworten. Allerdings könnten Mitgliedsstaaten, wenn ihnen entsprechende Untersuchungen vorlägen, die Artikel in Eigenregie aus dem Verkehr ziehen. Damit hat die EU-Kommission eine neue Variante im Verbraucherschutz eingeführt. Bisher war davon ausgegangen worden, daß gesundheitsschädliche Stoffe überall gefährlich sind. Alois Berger