Lebende Leichen und kanonischer Singsang

■ Mal heiß, mal kalt: Die Geschichte schlägt zurück. „PROJEKTion nach T.i.d.N.“ und „Anatomie Titus Fall of Rome“ beim „Die Wüste lebt!“-Festival der Kammerspiele

Die Gestalten entsteigen dem Dunkel, doch sobald auf der Bühne das Licht angeht, sind die Haare der Anna leuchtend hellblond. „Afrika“, seufzt die junge deutsche Kriegswitwe, und der Jogginghosenträger an ihrer Seite nimmt es als Aufforderung zum wilden Negertanz auf dem Sofa, bevor er sie umwirft und schlechter als ein Hund vögelt. Im Hintergrund wandeln lebende Leichen. Projektionen beschwören Wunschbilder und dunkle Bilder der Vergangenheit. Anna horcht auf: Da könnte ihr totgeglaubter Mann schlurfen. Der neue Mann horcht auch auf: Da könnte ein Baby in ihrem Bauch sein. Kurzfristig Panik, aber dann doch lieber noch einen trinken.

Anja Gronau hat das eigenwillige Projekt nach Brechts frühem Drama Trommeln in der Nacht mit fünf Schauspielern, einem Diaapparat und mehreren Filmprojektoren inszeniert und folgerichtig PROJEKTion nach T.i.d.N. genannt. Konzentrierte Bilder beschwören starke Stimmungen, deren Eigendynamik überzeugt und das Geschehen trotz seiner Fragmenthaftigkeit immer eindringlicher werden läßt. Der Totgeglaubte kehrt als überlebende Wasserleiche zurück, deren Herz und Hände verzweifelt leer bleiben sollen – wie ein früher Beckmann entdeckt er sein Bett besetzt und muß Draußen vor der Tür bleiben. Erst gebrochen, dann eine neue Wildheit entdeckend, wendet er sich der Revolution zu, deren Rhythmus von klickenden Diaprojektoren diktiert wird. Ohne Erklärung trippelt eine ausgemergelte Frau durch die Geschichte, die Gronau vor allem mit den Augen rollen läßt: „Das Bedürfnis nach einer Sprache, die niemand lesen kann, nimmt zu“, ruft ein Conférencier, und eine solche nicht erschöpfende Decodierbarkeit macht auch den Reiz dieser kurzen, rätselhaften Inszenierung aus.

Aus der totalen Dunkelheit kommen auch die Akteure von Nora Somainis Inszenierung Anatomie Titus Fall of Rome. In der Tiefgarage der Staatsbibliothek bildet ein Quadrat zwischen Betonpfeilern die Bühne, auf der nichts als ein Schrottauto steht. Aus der Tiefe des Raumes treten die Darsteller im Gleichschritt auf, rhythmisch „Rasch!“, „Blut!“ skandierend. Fasziniert PROJEKtion durch gekonnte Auflösung, besticht Titus durch Präzision: Heiner Müllers Drama nach Shakespeares' Titus Andronicus läßt Somaini von einem griechischen Chor schneidend sprechen. Doch während die stimmliche Sicherheit der jungen Darsteller beeindruckt, bleiben die artikulierten Greuel seltsam fern: Läßt Müller mit seiner Brachialität nicht scheuenden Poesie das Blut hinter den Machtintriguen hervorspritzen, macht der synchrone und kanonische Singsang des Chors sie zu klinischen Operationen. Ähnlich verhält es sich mit den an asiatischen Kampfsportarten geschulten, stilisierten Bewegungen, deren harmonische Ordnung letztlich dem Begreifen der Untaten nicht dient. Christiane Kühl

„Titus“ noch morgen, 21.15 Uhr, Kammerspiele (Treffpunkt)