Der Tiergarten als Gemüsebeet

■ Eine Ausstellung in der Domäne Dahlem dokumentiert ab morgen die Geschichte der Ernährung in Berlin seit 1945. Der Sprung von der Unterernährung zur Buttercremetorte vollzog sich in wenigen Jahren

Lebensmittelkarten, abgesehen von ihrer Zwangsverodnung für Asylbewerber, gelten als Relikte der Kriegsvergangenheit Berlins. „Sie wurden von den Nationalsozialisten sogar als positive Anleitung zur Sparsamkeit propagiert“, meint das Forscherteam um Burkhardt Sonnenstuhl, Bildungswerk- Geschäftsführer der Domäne Dahlem. Mit ihrer ab morgen geöffneten Ausstellung „Geschichte der Ernährungsgrundlagen Berlins nach 1945“ will das Team diese Vergangenheit ins Bewußtsein der Stadtbewohner zurückholen: „Zum Leben zuwenig, zum Sterben zuviel“ prägte Berliner Köpfe und Bäuche zwischen 1945 und Anfang der Sechziger. In einjähriger Recherche sammelten fünf Forscher des Bildungswerks Nachkriegsdokumente – vom „Hunger bis zur Freßwelle“ betitelten sie ihre Arbeit.

„Die traditionellen Normen wie Geld, Macht, Sozialstatus, Ruf und Prestige“ seien „außer Kraft gesetzt worden“, als sich „plötzlich Schwerarbeiter mit hervorragenden Schriftstellern in einer Klasse zusammenfanden, in der Lebensmittelkategorie 1“, hinterließ die Schriftstellerin Herta von Geppart den Dahlemer Forschern ihre Eindrücke. Für junge Berliner kaum noch nachvollziehbar: Ackerpflüge umkreisten die Siegessäule zum Gemüseanbau, und die vom Großen Stern abgehenden Alleen waren für den Koch- und Heizbedarf zum Abholzen freigegeben.

In 97.000 Wohnungen züchteten die Kriegsüberlebenden Schweine, Hühner, Enten, Schafe, Ziegen, Bienen und Kaninchen, wie die ausgewerteten Datenquellen vom April 1946 ergaben. Auch „Vitamin B“ gehörte zu den wichtigsten „Überlebensmitteln“: Die Dahlemer gruben eine soziologische Untersuchung aus der Zeit vom Februar 1946 bis zum Sommer 1947 aus. Danach galten nur Mitarbeiter bei den Besatzungsmächten und „Familien, deren Töchter Beziehungen zu Soldaten der westlichen Alliierten unterhielten, als ausreichend ernährt“.

In fünf Ausstellungsräumen wird auch der kulinarische Bogen zur „Freßwelle“ geschlagen, die Ende der fünfziger Jahre infolge der Währungsreform einsetzte: Überproduktion und der Verzehr an „fettem Fleisch, Gemüse, dicker Mehlschwitze, Buttercreme- und Sahnetorten, Erdnüssen und Salzstangen“ sollen mit einem Angebot an „alten und neuen Gerichten“ veranschaulicht werden. Peter Sennekamp

Die Ausstellung in der Königin- Luise-Str. 49 ist ab morgen bis zum 25. Oktober täglich außer dienstags von 10 bis 18 Uhr geöffnet.