„Der Fromme kommt nicht hierher“

Heute vor zehn Jahren begann in Berlin der Wiederaufbau der größten Synagoge Deutschlands – auf ausdrücklichen Wunsch von DDR-Staatschef Erich Honecker. Fromme Juden haben das schmucke Gotteshaus am Scheunenviertel vor 1933 gemieden, liberale dort ihr geistiges Zentrum gefunden. Heute ist der Bau mit seiner weithin sichtbaren goldenen Kuppel an der Oranienburger Straße Museum, Kulturzentrum und Archiv zugleich – vor allem aber ein touristischer Magnet erster Klasse. Eine Würdigung  ■ von Daniel Feurstin

Vor zehn Jahren entdeckt Erich Honecker ein schönes Geschenk für den Jüdischen Weltkongreß: die Ruine der Neuen Synagoge in Berlin- Mitte. Im Herbst kommt Edgar Bronfmann, Präsident des Weltkongresses, im Privatjet in die DDR-Hauptstadt gereist. Soldaten der Nationalen Volksarmee rollen den roten Teppich aus. Lächelnd tritt Honecker auf Bronfmann zu und begrüßt ihn wie einen Genossen aus alten Tagen.

Wunderliche Politik: Kurz zuvor hat er ihn noch einen „Agenten des US-Imperialismus“ genannt. Doch seit Mitte der achtziger Jahre orientiert sich die DDR um. Honecker will unbedingt ins Weiße Haus eingeladen werden, auch um den Außenhandel mit den USA anzukurbeln. Und Bronfmann soll in Washington ein gutes Wort für den DDR-Staatschef einlegen. Als Dankeschön versprach die Arbeiter- und-Bauern-Republik, die einst größte Synagoge Deutschlands wiederaufzubauen. Nur allzuviel kosten darf der Wiederaufbau nicht, denn die DDR steht kurz vor dem Bankrott. Das Politbüro findet eine günstige Lösung. Es will den Wiederaufbau mit internationalen Spenden finanzieren, Geld, das eine Stiftung eintreiben soll. Am 4. Juli 1988 wird die Stiftung Neue Synagoge-Centrum Judaicum per Verordnung auf den Weg gebracht. Bronfmann ist der erste, dem Honecker die Sammelbüchse hinhält. Bronfmann zahlt artig.

Am 9. November 1988 beginnt der Wiederaufbau mit einer symbolischen Grundsteinlegung. Das Neue Deutschland jubelt, daß der Bau eine „wahre Zierde für die Stadt“ sei. Von der ist allerdings noch wenig zu sehen. Denn von der Synagoge steht nur noch der Vorbau. Die große goldene Kuppel fehlt ebenso wie das Haupthaus. Britische Bomben hatten es in den letzten Kriegsjahren schwer beschädigt. Den Rest hatte Honeckers Vorgänger, Walter Ulbricht, 1958 wegsprengen lassen.

Honecker und die Jüdische Gemeinde beschließen, den Hauptbau nicht wiederaufzubauen. Die Gemeinde Ost-Berlins hat nur noch wenige hundert Mitglieder. Sie hat keinen Bedarf mehr für eine riesige Synagoge. Außerdem möchte die Gemeinde, daß die Spuren der Zerstörung nicht verwischt werden. Deshalb wird der Grundriß des einstigen Hauptbaus der Synagoge nur mit weißem Kies und schwarzen Granitplatten nachgebildet.

Pracht und Prunk der Neuen Synagoge inmitten der Armut der Spandauer Vorstadt und des Scheunenviertels existieren nur noch in Erinnerungen. Gad Beck, Zeitzeuge der Jüdischen Gemeinde, wuchs in der Nähe der Synagoge auf. Zu den Gottesdiensten vor der nationalsozialistischen Machtübernahme sagt er: „Die wohlhabenden Juden kamen aus der Stadt angefahren mit Kutschen, später mit Autos. Für die Equipagen gab es einen eigenen Eingang. Und jeder hatte dort in seinem Gebetsschränkchen einen Zylinder eingeschlossen.“ Der gediegene Wohlstand mitten in einem der ärmsten Viertel Berlins schreckte die Familie Beck ab. „Die ärmeren Juden gingen in die Rykestraße im Prenzlauer Berg“, sagt Beck.

Doch bei den wenigen Gottesdiensten, an denen er teilnahm, lauschte er hingerissen, wenn der Kantor zusammen mit einem vierstimmigen Chor und Orgelbegleitung aufspielte. „Das war gewaltig. Das rauschte wie bei Bach. Die Kantoren waren absolute Opernsänger“, sagt Gad Beck. Diese Stücke für die Gottesdienste – mit oft bis zu 3.200 BesucherInnen – komponierte Louis Lewandowski, Preußischer Musikdirektor und Chefdirigent der Berliner Synagogenchöre. Der Reformer wollte traditionelle jüdische Melodien mit christlicher Orgelmusik verbinden. Einige Lieder wurden sogar in deutsch gesungen.

Das aber ging den orthodoxen Juden, die im nahen Scheunenviertel ihre Hochburg hatten, entschieden zu weit. Sie klagten, daß das Gebäude „ein schönes Theater, aber keine Synagoge“ sei. Auch mit der Vorliebe der liberalen Juden für sephardische Traditionen, also die des mittelalterlichen, spanischen Judentums, konnten die Orthodoxen, die meist aus Osteuropa kamen, wenig anfangen.

Nicht nur Lewandowski komponierte in sephardischer Tradition. Auch die Außengestalter der Neuen Synagoge setzten ganz auf sephardischen Chic und hielten die gesamte Fassade im maurischen Stil. 1869, drei Jahre nach der feierlichen Eröffnung der Neuen Synagoge, gründeten die Orthodoxen dann aus Protest gegen die laschen Sitten in der Neuen Synagoge die Religionsgemeinschaft Adass Jisroel. Aron Hirsch Heymann, einer der Begründer der orthodoxen Gemeinde, lästerte, über dem Hauptportal der Neuen Synagoge sollte ein Spruch angebracht werden: „Öffnet die Pforten, daß eintrete der Nichtjude. Der Fromme dagegen bewahrt seine Treue. Er kommt nicht hierher.“

Nach 1933 leerten sich die Gottesdienste. Von den mehr als 160.000 jüdischen Berlinern wanderten fast 90.000 aus, mehr als 50.000 wurden später deportiert. Rund um die Synagoge schlossen jüdische Schulen, Geschäfte und Gemeindeeinrichtungen. Am 30. März 1940 fand der letzte Gottesdienst an der Oranienburger Straße statt. Danach beschlagnahmten die Nazis die Synagoge und archivierten Ariernachweise in ihrem Keller. Am 23. November 1943, nach einem Bombenangriff, meldeten die Behörden für das Gebäude schließlich: „Totalschaden“.

Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde in vielen Geschichtsbüchern ein Foto abgedruckt, das belegen sollte, daß die Neue Synagoge in der Reichspogromnacht ausbrannte. Doch das Dokument war eine Fälschung, denn die Synagoge wurde als einzige in Berlin gerettet – von der Polizei. Der Schriftsteller Heinz Knobloch hat die Geschichte der Rettung vor dem Feuer entdeckt. „In der Nacht des 9. November 1938 kamen SA-Leute in Räuberzivil und haben in den vorderen Räumen Feuer gelegt“, sagt er. „Aber dann hat der Reviervorsteher vom Hackeschen Markt, Wilhelm Krützfeld, mit ein paar Leuten vom Innendienst eingegriffen und die SA vertrieben. Hat dann die Feuerwehr alarmiert und sogar noch dafür gesorgt, daß eine Brandwache geblieben ist.“ Die Ewige Lampe der Neuen Synagoge brannte als einzige aller Berliner Synagogenlampen noch am Morgen des 10. November 1938.

Mehr als fünfzig Jahre später, im Oktober 1989, entdecken zwei Bauarbeiter die Lampe bei Enttrümmerungsarbeiten im Schutt der Synagoge wieder. Für Erich Honecker läuft der Wiederaufbau plangemäß. Nach dem Präsidenten des Jüdischen Weltkongresses hat auch die Bundesrepublik eine Million Mark der Stiftung überwiesen. Doch auf eine Einladung ins Weiße Haus wartet Honecker vergeblich. Denn nur drei Wochen nach dem Fund der Ewigen Lampe fällt die Mauer, noch ein Jahr später existiert die DDR nicht mehr.

Die Arbeiten an der Synagoge gehen jetzt zügiger voran, denn endlich können die Metallprofile für die Synagogenfenster eingekauft werden, die in der DDR nicht zu beschaffen waren. Auch aus Bonn kommt mehr Geld; Ende Oktober 1990 ist Richtfest. Dann werden die Fassade und die goldene Kuppel eingeweiht, im Herbst 1991 der goldene Davidstern am Kranseil hinaufgehievt – für Hermann Simon, den Leiter der Neuen Synagoge-Centrum Judaicum, war das der bewegendste Moment des Wiederaufbaus. „Als der Stern wieder auf dem Dach installiert wurde, hatte ich das Gefühl, daß wir wieder da sind.“

Während die letzten Bauarbeiten laufen, wird rund um die Synagoge Haus für Haus an die Jüdische Gemeinde rückübereignet. Vor 1933 gab es dort mehr als 300 Einrichtungen der Jüdischen Gemeinde. Einige eröffnen wieder: das Beth-Café und ein koscherer Lebensmittelladen der orthodoxen Gemeinde Adass Jisroel, der jüdische Kulturverein, die jüdische Oberschule, die jüdische Galerie und die Zentrale Wohlfahrtsstelle der Juden.

Allerdings werden die neuen Räumlichkeiten rund um die Synagoge meist von Touristen besucht. Der koschere Lebensmittelladen Kolbo muß sich auf Bücher, Kerzen und Postkarten für Berlin-Besucher spezialisieren. Denn die meisten der heute 11.000 Berliner Juden wohnen im Westen. Aus dem früheren Armenviertel Berlins wird ein nobles Wohnquartier, dessen Mieten sich jüdische Einwanderer aus Osteuropa meist nicht leisten können.

Im Mai 1995 ist es dann soweit. Die Synagoge und das benachbarte Centrum Judaicum samt Archiv, Dokumentationszentrum, Bibliothek, Museum und eine kleine Synagoge sind schmuck eingerichtet. Zur Eröffnung drängen sich auf der Freifläche hinter dem Vorbau Politiker, Rabbiner aus Israel und Überlebende der Shoah aus Frankreich. Auch Vertreter des Jüdischen Weltkongresses sind zur Eröffnung gekommen. Schließlich war der Wiederaufbau ihr Geschenk.