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Zweifelhafte Erbschaften

Vor 200 Jahren besetzten napoleonische Truppen Ägypten. Drei Jahre lang versuchten die Invasoren, dort einen modernen Staat zu etablieren. In der ägyptischen Intelligenzija wird nun debattiert: Dürfen die Kolonisatoren von einst gefeiert werden, weil sie ihr Land der Moderne näher- gebracht haben?  ■ Von Karim El-Gawhary

Es war das erste koloniale Abenteuer einer europäischen Macht im Zentrum der islamischen Welt. Die 30.000 Soldaten, mit denen Napoleon vor zweihundert Jahren, am 1. Juli 1798, vor der ägyptischen Hafenstadt Alexandria vor Anker ging, eröffneten ein völlig neues Kapitel in der Geschichte der Beziehungen zwischen Orient und Okzident.

Der Beginn der französischen Expedition in Ägypten ließ zumindest die dort herrschende Mameluckendynastie zunächst kalt. „Laßt die Franken ruhig kommen, wir werden sie unter unseren Pferdehufen zermalmen“, rief einer der damaligen Mameluckenprinzen selbstbewußt aus. Zu dessen Verwunderung waren die französischen Kanonen doch effektiver als die mameluckischen Pferdehufe. Nach gerade einmal drei Wochen hatten sich die französische Artillerie und die in Schlachtformation aufgestellten Gardisten den Weg bis Kairo freigeschossen.

In der nur 260.000 Einwohner zählenden Stadt herrschte unterdessen Panik angesichts der militärisch so überlegenen Invasoren. Napoleon versuchte zu beschwichtigen und erklärte den kolonialen Krieg zum Befreiungskampf. Die Franzosen wären nur gekommen, hieß es, um die Ägypter vom Joch der Mameluckenherrscher zu befreien, denn Paris sei der wahre Freund des ägyptischen Volkes.

„Ihr Scheichs, Imame, ihr Würdenträger des Landes, erklärt eurer Nation, daß die Franzosen ebenfalls echte Muslime sind. Als Beweis dafür dient, daß sie in die große Stadt Rom eingedrungen sind und den Sitz des Papstes zerstört haben, der stets die Christen dazu aufgehetzt hatte, Krieg gegen die Muslime zu führen“, lautete ein den französischen Truppen vorausgeschicktes Schreiben an alle Ägypter.

Die wahren französischen Motive hatten indes weder mit Religion noch mit der angeblich beabsichtigten Befreiung von der mameluckischen Soldateska zu tun, unter denen die ägyptische Bevölkerung so viele Jahrhunderte gelitten hatte. Ägypten war schlicht zum Opfer europäischer Rivalitäten geworden. Der Ägyptenfeldzug sollte den englischen Handelsinteressen einen herben Schlag versetzen.

In einem Bericht Napoleons an die heimische Direktoriumsregierung, ein Jahr vor der Expedition verfaßt, hatte der Feldherr seine Ambitionen unverhohlen formuliert: „Die Zeit ist nicht mehr fern, wo wir einsehen werden, daß wir uns notwendigerweise Ägyptens bemächtigen müssen, um England wirklich zu vernichten.“

Napoleons Traum von der Vernichtung Englands via Ägypten erwies sich jedoch als kurzlebig. Ganze drei Jahre sollte das koloniale Zwischenspiel Frankreichs dauern, ehe der letzte Soldat Ende September 1801 aufgrund des massiven englischen und osmanischen Drucks wieder zurück in die Heimat verschifft wurde.

Die europäische Geschichtsschreibung des Vorderen Orients hat diese drei Jahre als Zeitenwende bezeichnet, als Beginn der Modernisierung Ägyptens, jener Zeit eben, in der – ex occidente lux – europäisches Licht die ägyptische Nacht erleuchtete. Wie so viele spätere Kolonisatoren bauten die Franzosen die Infrastruktur aus, begannen den Verwaltungsapparat zu reformieren und führten ein System indirekter Herrschaft ein. Die religiösen Würdenträger des Landes wurden in beratenden Gremien, sogenannten Diwanen, mit einbezogen. Die ersten französischen Kolonisten in Nordafrika erwiesen sich angesichts des neuen exotischen Studienobjektes auch als äußerst wissensdurstig.

Über 140 mitgereiste französische Wissenschaftler erfaßten alles, von Geographie und Fauna, pharaonischer Geschichte bis zu gegenwärtigen Sitten und Gebräuchen. Selbst das Nilwasser wurde untersucht, mit dem für heute erstaunlichen Resultat, daß es leicht, von angenehmem Geschmack, außerordentlich rein sei und weniger fremde Gegenstände als das Seine-Wasser enthalte.

Die Ergebnisse ihrer Studien hielten sie in der weltbekannten, über zwanzig Bände umfassenden „Description d'Egypte“ fest. Doch als der wohl folgenreichste wissenschaftliche Fund der französischen Besatzer sollte sich der Rosetta-Stein erweisen, mit dessen Hilfe später das hieroglyphische Alphabet entziffert werden konnte – eine Revolution für die Ägyptologie.

Die zeitgenössische ägyptische Intelligenzija war hin- und hergerissen zwischen den Erfahrungen der brutalen französischen Aufstandsbekämpfung, die jeden Widerstand gegen die Besatzung blutig erstickte, und den Errungenschaften französischer moderner Technologie und Wissenschaft und dem Geist der Aufklärung (siehe nebenstehenden Kasten).

Zweihundert Jahre später scheint diese Mischung aus Abscheu und Bewunderung noch nicht aufgelöst. Geht es nach dem Willen der französischen Regierung und des ägyptischen Kultusministeriums, bietet das Jubiläum der französischen Expedition Anlaß zum Feiern. Frankreich kann sich einmal mehr als die Grande Nation präsentieren, als selbstlose Überbringerin von Aufklärung und Wissenschaft; und die ägyptische Regierung wittert eine Chance, das durch Anschläge militanter Islamisten unter den Touristen so angekratzte Image aufzubessern. Der Titel für die Feierlichkeiten war schnell ausgesucht. „Frankreich in Ägypten – Ägypten in Frankreich“. Über achtzig Veranstaltungen sollen zum Thema im Laufe eines Jahres in beiden Ländern stattfinden.

Unterdessen regte sich in Ägypten erster Widerspruch gegen die umstandslose Huldigung der napoleonischen Invasion. Einige Zeitungen warfen den ägyptischen Organisatoren „nationalen Verrat“ vor. „Haben wir noch irgendeine Art von Würde und Gewissen?“ erklärte die moderate Islamistin Ne'amat Ahmad Fuad im Magazin Al-Ahram Al-Arabi. „Kein Volk der Welt feiert seine Besatzung“, formulierte sie. Auch am gerade eingeweihten neuen ägyptischen Flügel im Pariser Louvre läßt sie kein gutes Haar: „Sollen wir vielleicht feiern, daß Napoleon mehr als siebentausend Kunstwerke in Ägypten geklaut hat?“

Doch im Kern der jetzigen ägyptischen Debatte steht die Frage, wann Ägypten in das Zeitalter der Moderne eingetreten ist. Mehr noch: Hat Ägypten seine Moderne Napoleon und seinen Truppen zu verdanken? Neuere historische Studien bestätigen, daß Ägypten bereits vor der französischen Invasion die Wurzeln für die spätere Modernisierung gelegt hatte, wie Peter Gran, Autor des Buchs „Islamic Roots of Capitalism“, nachweisen konnte.

„Die französische Expedition war eine Randerscheinung für unsere kulturelle Renaissance“, argumentiert denn auch Hossam Eissa, Professor für internationales Recht in Kairo und einer der Hauptopponenten gegen die diesjährigen Festlichkeiten. Mahmud Amin Alim, Philosoph und Chefredakteur der Zeitschrift Qadiya Fikriya (“Ideologische Angelegenheiten“), zählt durchaus zur frankophonen Elite des Landes.

Doch auch er meint, daß die Franzosen womöglich den eigenen ägyptischen Modernisierungsprozeß gestoppt hätten, um dem Land eine externe Modernisierung aufzuzwingen. Ohnehin sei das damalige eifrige Wissenansammeln eine Einbahnstraße gewesen: Erst in den achtziger Jahren unseres Jahrhunderts wurde jene berühmte „Description d'Egypte“ ins Arabische übersetzt.

Für Abdel Moty al-Hegazi, Chefredakteur der Zeitschrift Al-Ibdaa (“Kreativität“), bleibt dennoch unbestritten: „Die Geschichte des modernen Ägyptens beginnt mit Napoleons Kampagne.“ Das zu leugnen sei Ignoranz. Al-Hegazi führt ein anderes wichtiges Argument ins Feld: „Letztendlich kennt Ägypten seine eigene Geschichte nur durch die Besatzung“ – eine Aussage, die viele Ägypter schmerzen muß.

Für die Ägyptologie war die französische Expedition und der Fund des Rosetta-Steins tatsächlich ein Wendepunkt. Paradoxerweise waren es eben die Kolonisatoren, die in diesem Fall Licht ins Dunkel der pharaonischen Geschichte gebracht haben. Eine Historie also, auf die heute gerade jene ägyptischen Nationalisten mit Stolz verweisen, die jetzt am lautesten gegen die Feierlichkeiten schreien. „Wie sehr stehen wir in der Schuld des europäischen Kolonisten, den wir gleichzeitig so sehr hassen?“ faßt die in England dozierende Psychologin Mervat Abdel Nasser in der ägyptischen Zeitschrift Akhbar Al- Adab (“Literatur-Nachrichten“) das kulturelle Dilemma zusammen.

Muhammad Sid Ahmad, einer der prominentesten Politikkommentatoren Ägyptens, hat unterdessen für die Feierlichkeiten einen Kompromiß vorgeschlagen. Besser wäre gewesen, so der frankophon orientierte Mann, man hätte im kommenden Jahr den zweihundertsten Jahrestag der Entdeckung des Rosetta-Steines begehen sollen, anstatt dieses Jahr den Beginn der französischen Expedition zu feiern. Zu spät, sagt das Kulturministerium.

Um zu retten, was zu retten ist, lassen die Organisatoren der Festivitäten das Jubiläum unter dem Titel „Ägypten – Frankreich – Gemeinsame Horizonte“ laufen. Die erhitzten Gemüter in der Debatte um das Für und Wider der eigenen Kolonialgeschichte hat dieser kleine Taschentrick allerdings bisher nicht beruhigen können.

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