Wenn Klassik zum Pop wird

Überall in der Republik buhlen sommerliche Musikfestivals um Zuhörer – in Rheinsberg, Eutin oder Meldorf. Das Schleswig-Holstein Musik Festival lebt seit zwölf Jahren vor, wie der Erfolg organisiert werden kann: mit Entertainment, Stars, bemüht lockerer Atmosphäre und musikalischen Darbietungen, die manchmal sogar höchsten Ansprüchen genügen. Sogar der staatlich subventionierte Opernbetrieb profitiert vom steigenden Festspielfieber  ■ Von Ralph Bollmann (Text) und Detlev Schilke (Fotos)

Um den Kopf des Dirigenten schwirren Mücken. Das Publikum bleibt von ihnen verschont, weil die Veranstalter vorsorglich in „Dschungelmilch“ getränkte Erfrischungstücher ausgeteilt haben. Über den Orchestergraben verteilt sich das Odeur der im Gebüsch aufgestellten Miettoiletten. Rheinsberg. Unter freiem Himmel spielt die örtliche Kammeroper. Es geht ausgesprochen ländlich zu. Und das war auch so gedacht. Das „Internationale Opernfestival junger Sänger“ im Rheinsberger Schloß bietet ein Opernerlebnis besonderer Art. Weder ist es vergleichbar mit der städtischen Musiktheaterroutine noch mit den Weihestunden der Festspiele in Bayreuth oder Salzburg. Wenn die Grillen zirpen und die Sonne langsam im See versinkt, dann ist's schon sehr romantisch im märkischen Land. Dort, wo sich schon der junge Fritz, Preußenkönig in spe, mit allerlei musischem Aufwand über den Tod seines Hans Hermann hinwegzutrösten suchte.

Gewiß, manche Einbußen müssen die Festivalbesucher schon hinnehmen. Zwar sind die Sänger, die jedes Jahr aus mehreren hundert Bewerbern ausgewählt werden, exzellent. Doch unter freiem Himmel kommen ihre Töne ohne elektronische Verstärkung beim Publikum nicht an. Nüchtern betrachtet schmälert das den Kunstgenuß erheblich. Allein: Niemand kommt nach Rheinsberg, um die Aufführung einer nüchternen Prüfung zu unterziehen. Wer es musikalisch gerne klassisch mag und sommers dennoch nicht auf ein luftiges Ambiente verzichten möchte, verläßt die Großstadt. Rheinsberg ist da für Hauptstädter eine gute Adresse: Klassische Musik plus Havel-Zander.

Überhaupt wird landauf, landab in diesen Tagen wieder geknödelt, geschrammelt und getrötet, was das Zeug hält. Wie viele solcher Festivals es hierzulande gibt, weiß niemand zu sagen. Schon vor dem Beitritt des Ostens zählte der Deutsche Musikrat in der Bundesrepublik, ohne jeden Anspruch auf Vollständigkeit, 110 solcher Konzertreihen. Inzwischen sind sie auch in den blühenden Sommerlandschaften der neuen Länder etabliert wie keine andere Industrie: Kultur als weicher Standortfaktor für den Aufschwung Ost.

Begonnen hat der Aufschwung der Klassik im Grünen vor zwölf Jahren mit dem Schleswig-Holstein Musik Festival (SHMF). Doch mit dem Anspruch, friesischen Bauern und lauenburgischen Verkäuferinnen Beethoven und Berg in die Scheune zu bringen, ist Festivalgründer Justus Frantz gescheitert. Zum einen sind die Preise von anfänglich zehn Mark pro Karte in Höhen gestiegen, die das Niveau großstädtischer Konzertsäle mühelos überbieten. Zum anderen stellte sich bald heraus, daß ein vornehmlich urbanes Publikum aus Hamburg, Lübeck oder Kiel nur zu Picknick und Konzert auf dem Dorf einfiel. Kaum waren die Schlußakkorde in lauen Sommernächten verklungen, jaulten die BMW-Motoren auf. Die Karawane zog wieder zurück in die Stadt, leicht indigniert, weil eine Bäuerin doch tatsächlich zwischen den Sätzen ihrer Begeisterung mit Applaus Ausdruck verlieh.

Kein Wunder, daß die Organisatoren daraus ihre Konsequenzen zogen. Neben Scheunen, Ställen, Reithallen, Dorfkirchen und Gutshäusern, im Branchenjargon „Ambiente-Spielstätten“ genannt, traten als Veranstaltungsorte immer mehr die großen Konzertsäle und Kirchen der Städte. Und statt junger Nachwuchsmusiker dominierten alsbald die großen Namen des internationalen Musikbetriebs. „Anderswo Bewährtes klingt eben auch am besten in Schlössern, Kirchen und Scheunen“, kommentierte die Frankfurter Allgemeine Zeitung. „Das Schleswig-Holstein Musik Festival soll das gleiche künstlerische Niveau bieten wie die großen Festivals in der Welt, zum Beispiel Salzburg“, tönte Justus Frantz.

Die Geschichte liebt die Ironie: Als der rührige Intendant 1994 wegen eines Millionendefizits im Festivalbudget zurücktreten mußte, folgte ihm mit Franz Willnauer just der langjährige Generalsekretär der arrivierten Salzburger Festspiele nach.

Trotzdem ist das Festival, zum Glück, kein zweites Salzburg geworden. Schließlich sollten die Konzerte auf dem Land jene Abschottung einer vermeintlich „ernsten“ Musikkultur von einer angeblich bloß unterhaltenden Populärkultur gerade überwinden. In Bayreuth hatte zwar schon Richard Wagner Festspiele fürs Volk schaffen wollen, doch die High-Society ignorierte diese volkstümelnden Ideen souverän und hielt ihr Fest im Fränkischen von der Plebs frei.

Die Idee, mit einer Art Woodstock der Klassik die Inhalte des traditionellen Musikbetriebs mit den Formen der modernen Massenkultur auszusöhnen, kam in Deutschland von den Konservativen. Justus Frantz verwirklichte sie im Einklang mit seinem CDU-Freund Uwe Barschel. Richard von Weizsäcker bejubelte das Vorhaben prompt als „musikalische Bürgerinitiative“. Die Linke hatte für diese Veranstaltung zunächst gar keinen Sinn. In Italien organisierte Claudio Abbado zwar Arbeitervorstellungen in der Mailänder Scala, in Frankreich ließ der Sozialist François Mitterrand das größte Opernhaus des Kontinents bauen, in England pilgerten die Massen zur „Last Night of the Proms“ – aber eine solche Tradition existiert in der deutschen Kultur nicht.

Die Mauern des Etablierten, die die Regisseure der Generation um Claus Peymann und Peter Zadek an den Stadt- und Staatstheatern einrissen – im Musikbetrieb blieben sie stehen. Vielleicht war einer linken Kultur des Wortes und der Kritik, geschult an der Tradition des lustskeptischen deutschen Protestantismus, die Musik als Kunstform ohnehin suspekt.

Was unbemerkt blieb: Die Festivalkultur der vergangenen anderthalb Jahrzehnte hat die Klassikszene gründlich verändert. Sie hat sich verjüngt, hat sich von einer gewissen Steifheit verabschiedet, gibt sich spaßorientierter, ja experimentierfreudiger, kurz: moderner. Davon hat nicht nur die Schallplattenindustrie profitiert, sondern auch der angestammte Kulturbetrieb, der sich vornehmlich auf die Wintersaison konzentrierte. Die kulturpessimistische Klage über die angebliche Verflachung und Trivialisierung des hehren Klassikbetriebs sind denn auch mittlerweile verstummt.

Sicher, der Festivalbetrieb kennt auch seine Peinlichkeiten. Seit sich Justus Frantz mit der neuen Leitung ausgesöhnt hat, endet das Festival wieder mit seiner „Last Night“ – ein Potpourri von Klassikhits, das im seriösen Feuilleton nur in Verbindung mit dem Adjektiv „berüchtigt“ Erwähnung findet. „Maßlos überlang“ sei das Programm, auf dem „allerlei musikalische Leichtgewichte“ stünden, wurde notiert, kurzum: „Ein Konzert wie ein Dauerlutscher, zu lang und viel zu süß.“

Der ehemalige Intendant „ruckt und zuckt“ unterdessen am Dirigentenpult und verteilt anschließend „Küßchen hier, Shrimps in Soße da“. Die Konzerte des „netten Justus“, monierte der Spiegel, erinnerten „an Lübecker Marzipan: ohne Biß und voll süß-fettigem Schmelz“. Die meisten Besucher strömten „nicht wegen seiner pianistischen Qualitäten in die Säle, sondern wegen seiner Beliebtheit“.

In der Rückschau läßt sich sagen, daß die Figur Justus Frantz, wie sie sich und das Festival inszenierte, ein typisches Produkt der achtziger Jahre war. Jener Zeit, als die große Mehrzahl der Westdeutschen sich kulturell höheren Sphären zuzuwenden begann, sich darauf verlegte, zwischen Vivaldi und Tiramisu das gute Leben zu entdecken. Reichtum und Genuß waren nicht mehr verdächtig. Da konnten plötzlich auch arrivierte Schnösel Beachtung finden. Ein Autotelefon galt kurz vor der Handyära noch als der letzte Schrei.

Kein Wunder, daß der große Justus mit seinem Lieblingsspielzeug gerne vor den Kameras posierte – wenn er sich nicht gerade mit Prinz Charles ablichten ließ, mit Yehudi Menuhin oder Hermann Prey, mit Helmut Kohl im Gespräch oder mit Helmut Schmidt am Schachbrett. Oder mit Björn Engholm, dem Justus Frantz der Sozialdemokratie, als dessen Lebensart noch nicht im Verdacht stand, kulturbeflissene Seichtheit zu vernebeln.

Damals verschwammen die Grenzen zwischen Subventionskultur und Kommerz. Mit öffentlichen Geldgebern und Sponsoren kooperierte Frantz ebenso wie mit Veranstaltern vom Schlage eines Peter Schwenkow, dem es völlig gleichgültig ist, ob er sein Geld mit einem Musical verdient oder mit einem Mozart-Abend. Seine „Open Air Classic“-Konzerte, ließ er wissen, seien „letztlich auch eine Form von Krieg“ gegen die subventionierte Kultur: „Hier gibt es eine schweigende Mehrheit, die mit ihrem Anteil an Steuergeldern eine Minderheit bezahlt.“

Die gescholtenen Subventionsempfänger haben von Schwenkow schnell gelernt. Inzwischen bessern sie unter dem Deckmantel eines Festivals ihre Kasse kräftig auf. Bei den Münchner Opernfestspielen etwa sehen die Zuschauer das übliche Repertoire der Bayerischen Staatsoper, aufgemotzt mit ein paar prominenten Sängernamen – und zahlen dafür Eintrittspreise, die selbst die ohnehin horrenden Alltagspreise an Deutschlands teuerster Bühne weit übersteigen. Auch in die Berliner Staatsoper lockt deren künstlerischer Leiter Daniel Barenboim bei seinen „Festtagen“ im Frühjahr die Wagnerfans mit mehrfachem Preisaufschlag. Die Händelfestspiele in Halle verlangen hohe Ticketpreise für Opernabende, die in gleicher Besetzung wenige Tage später schon für zehn Mark pro Person zu sehen sind.

Vielfach scheinen gerade die hohen Preise die eigentliche Attraktion zu sein. Barenboim betreibt diese Strategie ganz offen: Wer bereitwillig so viel zahlen könne, pflegt er zu erklären, den wolle er nicht daran hindern.

Doch der Event- und Happeningcharakter der Festivals erleichtert nicht nur den Absatz teurer Karten. Weil er Inhalte ein wenig in den Hintergrund treten läßt, fällt es den Veranstaltern leichter, dem Publikum moderne oder selten gespielte Werke unterzujubeln. Während der Direktor des Kleinstadttheaters sein Haus eben nur mit der „Fledermaus“ füllt und das Staatsorchester sein Publikum am leichtesten mit Mozart lockt, kann es sich das SHMF leisten, beispielsweise in diesem Jahr den Italiener Luciano Berio als Composer in residence einzuladen und einen dreijährigen Zyklus mit Werken der Zwölftöner Schönberg, Berg und Webern fortzusetzen.

Die Besucher kommen ohnehin, der Stimmung wegen. Ein Programm ganz ohne ein gefälliges Stück würden sie nicht goutieren – sonst kann es zu Peinlichkeiten kommen wie vor drei Jahren, als ein Konzert mit dem Komponisten und Dirigenten Pierre Boulez mangels Publikumsinteresse ausfallen mußte.

Solch volkspädagogischer Eifer konnte aber die Zweifler aus dem traditionellen Musikbetrieb nicht beruhigen. Franz Müller-Heuser, als langjähriger Präsident des Deutschen Musikrats oberster Wächter über die Musikkultur im Lande, kritisierte schon im vierten Jahr des „krebsartig wuchernden“ SHMF einen „musikalischen Aktionismus“, der unter dem „Deckmantel griffiger Humanitätsformeln“ vor allem „der Selbstdarstellung der Initiatoren“ diene. Die Festivals drohten nicht nur den regulären Konzertbetrieb kaputtzumachen, weil das gigantische Angebot das Publikum überfordere und die gestiegene Nachfrage nach Solisten die Gagen in schwindelerregende Höhen treibe. Sie ruinierten auch die Stimmbänder des Sängernachwuchses, die sich in der Sommerpause nicht mehr regenerieren könnten. Die Nachwuchsmusiker würden auf diese Weise „schlicht verheizt“.

Den Politikern riet Müller-Heuser so eingeschnappt wie besorgt, ernsthafter zu prüfen, ob die öffentlichen Zuschüsse wirklich für „etwas Vernünftiges und Unterstützenswürdiges“ verwandt würden. Nicht anders als Frantz sähen die Länderfürsten in den Festivals willkommene Anlässe zur Selbstdarstellung. Sie nähmen kaum noch wahr, „daß wir schließlich das ganze Jahr hindurch Kultur machen“.

Ein besonders eindrückliches Denk-, ja Mahnmal dieses Phänomens ist seit kurzem in Baden-Baden zu besichtigen. Als hätte der Kulturlandschaft im Ländle just ein solcher Kulturtanker noch gefehlt, subventionierte die baden-württembergische Landesregierung Bau und Betrieb des Festspielhauses, um die von Herbert von Karajan begründeten Salzburger Pfingstfestspiele an die Oos zu holen. So entstand mit 2.500 Plätzen Deutschlands größter Musiktheaterbau. Betrieben wird er von der Firma Dekra, die ihr Geld in der Hauptsache damit verdient, Autos auf ihre Fahrtüchtigkeit hin zu überprüfen.

Und weil sich ein so großes Haus auch rechnen muß, verwirklicht es nun das, wovon selbst Justus Frantz bei allem Expansionsdrang nicht zu träumen wagte: ein Festival in Permanenz. Zu füllen vermochten es die Manager bisher nur mit der populärsten aller Opern, Verdis „Traviata“, dirigiert vom populärsten aller Tenöre, Placido Domingo. Daß der Sänger in seiner Rolle als Dirigent nicht eben zur Weltspitze zählt, interessierte das angereiste Publikum wenig. Frenetisiert applaudierte es am Ende. Bei Verdis „Räubern“, beim breiten Publikum kaum bekannt, klafften auf den Rängen große Lücken.

Kulturpolitiker und Betreiber reden jetzt von Managementfehlern, um sich nicht den Schiffbruch ihrer ganzen Idee eingestehen zu müssen. Womit bewiesen wäre, daß ein Dauerfestival, statt die Klassik populärer zu machen, am Ende nur noch Populäres anbietet. So schreckte in Schleswig-Holstein Festivalchef Franz Willnauer nicht einmal davor zurück, im Zeichen des diesjährigen Italien-Schwerpunkts das „Rondo Veneziano“ aufs Programm zu setzen. „Das Erfolgsensemble aus der Lagunenstadt“, verspricht der Pressetext, „versteht die Klänge der Vergangenheit mit einer Prise Popmusik unterhaltsam zu würzen. Swinging Rokoko!“ Auch das Orchester der italienischen Luftwaffe wird das Belpaese im hohen Norden vertreten, „schneidige Märsche all'italiana“ spielen und obendrein einen „Überraschungsgast“ präsentieren.

Wen solch ein Programm interessiert? „Die Herren bevorzugen Shorts“, notierte ein Rezensent am Rande eines Justus- Frantz-Konzerts die Kleiderordnung, „die kurz vor den Knien aufhören und am besten zwei verschiedenfarbige Hosenbeine mit unterschiedlichen Mustern haben. Bei den Damen gerne getragen sind weite, fast kleidartige T-Shirts in knallrosa, die mit einer Zwischenform aus Strumpf- und Jogginghose kombiniert werden.“

Doch welcher Snob mag sich darüber erregen? Zu den vermeintlich seriösen Festivalkonzerten mag die städtische Kulturschickeria im schwarzen T-Shirt erscheinen – der Reiz des Festivals liegt auch für sie, so Musikfunktionär Müller-Heuser schon vor zehn Jahren, in der „Kombination von Kultur und Urlaub“. Mit dem Motto „Klassik al dente“ greift das Festival in Schleswig-Holstein noch einmal tief in die Mottenkiste der toskanaseligen Achtziger und bekennt sich zugleich zur musikalischen Völlerei.

Das Publikum bekommt die einst als zu schwer empfundene Kost mundgerecht serviert. Im überhitzten Festivalbetrieb droht so der letzte Biß verlorenzugehen.

Detlev Schilke, Jahrgang 1956, ist freier Fotograf in Berlin. Seine Schwerpunkte: Kultur und Wirtschaft.

Ralph Bollmann, 1969 geboren, notorischer Operngänger und Konzertbesucher, ist taz-Redakteur in Berlin.