Ist Volkes Wille gewollt?

■ Die Hamburger Bürgerschaft fragt sich, ob „Mehr Demokratie“ mehr Demokratie bringt. Kontrahenten Jan Ehlers (SPD) und Martin Schmidt (GAL) im taz-Streitgespräch

In Bremen sammelt zur Zeit die Initiative „Mehr Demokratie“ Unterschriften, um die Rahmenbedingungen für ein Volksbegehren zu erleichtern (siehe Kasten). In Hamburg dauert dieser Prozeß schon länger an. Die taz hat darum Jan Ehlers von der Hamburger SPD-Fraktion und Martin Schmidt von der GAL-Fraktion zu einem Streitgespräch darüber eingeladen.

taz: Müssen sich Minderheiten vor Volksentscheiden ohne Hürden, wie die Initiative „Mehr Demokratie“ sie will, fürchten?

Martin Schmidt: Sie müssen sich nicht mehr fürchten als vor den jetzigen Verhältnissen und Mehrheiten. Ich gehe bis zum Beweis des Gegenteils davon aus, daß in Hamburg eine fremdenfeindliche Mehrheit nicht zustande kommt.

Jan Ehlers: Unser Problem ist, daß wir uns Beispiele ausdenken müssen, weil wir noch keine Erfahrung haben. Die erste Volksabstimmung findet zur Volksabstimmung selbst statt. Es gibt sicher gute und weniger gute Beispiele. Mir wäre wohler, wenn wir erst einmal fünf oder sechs Jahre Volksgesetzgebung praktiziert hätten, bevor wir die Verfassung erneut ändern. Auf die Frage gibt es eine klassische politische Antwort: Volkswille ist nicht von Natur aus gut. Beispielsweise wird es in der Bundesrepublik Deutschland wahrscheinlich auch heute noch so sein, daß die Mehrheit der Bevölkerung für die Todesstrafe ist. Unser politisches System sorgt dafür, daß die Abschaffung der Todesstrafe im Grundgesetz bestehen bleibt.

Schmidt: Das Grundgesetz steht in Hamburg aber gar nicht zur Disposition. Ich bin weit davon entfernt zu glauben, das Himmelreich auf Erden zu haben, wenn das Volk alles zu entscheiden hätte. Es ist aber meine feste Überzeugung, daß das Volk genauso gut und schlecht entscheidet wie Politiker auch. Die hohen Hürden, die Sie für den Volksentscheid wollen, führen in der Realität dazu, daß kein Volksentscheid jemals erfolgreich ist.

taz: Nehmen wir einmal an, wir hätten Volksabstimmungen ohne Beschränkungen. 20 Prozent beteiligen sich an einer Abstimmung über eine fünfte Elbtunnelröhre. Die Mehrheit ist dafür. Es sind aber nur 11 Prozent der Wahlberechtigten. Würden Sie das akzeptieren, Herr Schmidt?

Schmidt: In der Sache ist es ja nicht anders als jetzt. Die Entscheidungen der Parlamente sind meistens zugunsten des Straßenausbaus gefallen. Da erhoffe ich mir vom Volk eher eine Verlangsamung dieses Prozesses. Es sollte bei Volksabstimmungen die schlichte Regel gelten: Mehrheit schlägt Minderheit, egal wie viele teilnehmen. Ich gebe zu, daß ich es auch ablehnen würde, wenn drei Prozent gegen zwei gewinnen würden. Nur: Es ist abstrakt. Es gibt gar kein Beispiel dafür. 30 bis 40 Prozent beteiligen sich im Schnitt. Deswegen halte ich das für Schauergemälde.

Ehlers: Volksabstimmungen sind ohne Frage ein belebendes Element für die Demokratie. Deswegen haben wir es ja in die Verfassung aufgenommen. Aber es gibt auch Fälle, in denen sich das Volk für das, was da zur Abstimmung steht, nicht sonderlich interessiert und nur sehr wenige zur Abstimmung gehen. Das ist das Risiko dabei. Es kommen verzerrte Ergebnisse, die von Partikularinteressen bestimmt werden, zustande.

Schmidt: Ich akzeptiere den Grundsatzverdacht nicht, daß das Volk borniert und nicht in der Lage sei, politische Fragen von dem eigenen Interesse zu unterscheiden. Es wird viel mehr darüber diskutiert werden als im Augenblick. Denn jetzt haben die Politiker oft nur mit einer Bürgerinitiative zu tun. Sie können noch einmal die Gesamtstimmung der Bevölkerung anführen gegen eine von egoistischen Interessen geleitete Initiative. Nehmen wir mal die Rückdeichung in Wilhelmsburg. Es wäre sicher nur gut, dieses Thema einer richtigen Abstimmung zuzuführen.

Ehlers: Ich sage ja nicht, daß das Volk zu dumm wäre, im Gegenteil. Das Volk wird oft das korrigieren können, was auf parlamentarischem Weg nicht gelaufen ist. Aber es gibt viele Themen, bei denen das erkennbar nicht so sein wird. Deshalb muß es Hürden geben.

taz: Welche Themen denn?

Ehlers: Seit 25 Jahren gibt es das Thema kriminelle Jugendliche in der Stadt. Ebenso lange gibt es keine geschlossene Heimunterbringung mehr. Das flackert aber immer wieder auf. Bei einer Entscheidung über so ein Thema würde es vermutlich eine Stammtischmehrheit geben. Viele würden sicher engagiert für Pro und Contra streiten, viele würden aber auch aus dem hohlen Bauch agieren. Wenn eine hinreichend große Zahl abstimmt, dann wird sich schon eine Vernunft herstellen. Die Verfassung muß also sicherstellen, daß es keine Zufallsmehrheit ist.

Schmidt: Das ist aber eine seltsame Konstruktion. Sie sagen: Wenn 30 Prozent abstimmen, haben wir eine Stammtischmehrheit. Wenn es mehr sind, wird alles wieder gut. Derzeit sehe ich nicht die von Ihnen beschriebene Gefahr. Wobei ich zugebe, daß auch ich nicht weiß, wie sich die Dinge in der Zukunft entwicklen. Es gibt eine Wechselwirkung zwischen Politikern und Volk. Auch in Hamburg könnten wir nicht auf Dauer die Abschaffung der geschlossenen Heime gegen das Volk beibehalten. Das Volk muß es mindestens billigend in Kauf nehmen. Und deswegen finde ich auch in diesem Falle eine öffentliche Debatte durch einen Antrag auf Volksentscheid so schädlich nicht.

Ehlers: Ich sehe schon, daß sich Mehrheitsentscheidungen gegen Minderheiten richten können. Es gibt kaum eine kommunale Solidarität in einer Großstadt. Sehen Sie mal die Verteilung der ausländischen Bevölkerung. Es kann ohne weiteres eine Situation entstehen, wo ein Bezirk wie Harburg oder Mitte sagt: Wir haben einen hohen Ausländeranteil. Wir sind nicht ausländerfeindlich, aber jetzt sollen erst mal andere Bezirke ran. Das hätte Aussicht auf Erfolg.

Schmidt: Wohin führt das?

Ehlers: Die Unterbringung von Zuwanderung ist sehr bewußt über die ganze Stadt gestreut worden. Und so etwas kriegen sie nie über Volksentscheide hin.

Schmidt: Das ist doch ein Paradoxon. Die SPD wirft der GAL gerne vor, daß wir nicht nur die Interessen der Hinzukommenden sehen, sondern auch die der schon hier Lebenden berücksichtigen. Das bedeutet, daß eine gute Integrationspolitik nicht gegen die Interessen der Aufnahmebevölkerung durchgesetzt werden kann. Und jetzt warnen Sie davor.

Ehlers: Nein, nein, da möchte ich nicht mißverstanden werden. Es geht nicht darum, die Volksgesetzgebung wieder abzuschaffen, sondern ich will in dem Verfahren einen Punkt, den Sie nicht wollen.

Schmidt: Sie schütten das Kind mit dem Bade aus. Es macht keinen Sinn, nach dem fünften erfolglosen Volksentscheid zu sagen, jetzt müssen die Regeln geändert werden.

Ehlers: Warum eigentlich nicht?

Schmidt: Dann sehen wir uns in zehn Jahren wieder.

Ehlers: Ich gehe davon aus, daß eine Wirkung eintritt allein dadurch, daß es so etwas gibt.

Schmidt: Aber wenn das Volk keine verläßliche Drohung gegen das Parlament hat, dann wird sich das verflüchtigen.

taz: Was ist so schwierig daran, 25 Prozent der Wahlbevölkerung zu gewinnen?

Schmidt: Dann müßte man eine Regel erfinden, die besagt, Volksabstimmungen müssen immer an normalen Wahltagen stattfinden, weil sie sonst an dieser Hürde scheitern. In Bayern wäre eine einzige der vielen Volksabstimmungen gültig gewesen, wenn man diese Meßlatte angelegt hätte. Ich bin dafür, daß auch bei Volksabstimmungen die Mehrheit siegt.

Ehlers: Die Mehrheit siegt – das reicht für unsere politische Kultur nicht aus. Eine so geringe Legitimationsbasis von 30 Prozent wäre für unsere Demokratie bei normalen Wahlen gar nicht denkbar.

Schmidt: Herr Ehlers, ich habe ja nicht von Wahlsystemen gesprochen, sondern von Abstimmungen. Ehlers: Ich würde ja gern in den Wettbewerb um Mehrheiten treten, aber das wollen Sie ja verhindern. Meine Mehrheit, die ich für unseren Entwurf der neuen Volksgesetzgebung erwarte, die wird nämlich größer sein als Ihre. Und das wird Ihnen nicht gefallen.

Schmidt: Ach, Herr Ehlers, das ist doch wieder ein gezinktes Argument. Mit ihrem Gegenentwurf zu „Mehr Demokratie“ machen Sie jeden Erfolg zunichte, weil Sie die Stimmen spalten.

Ehlers: Da haben Sie das Verfahren wohl nicht gegenwärtig. Man kann für beide Modelle mit Ja stimmen, beide ablehnen oder sich für eins entscheiden. Viele werden beide Entwürfe befürworten, weil auch unser Vorschlag mehr ist als die jetzige Regelung und Ihrem Modell gar nicht abträglich ist.

taz: Können Sie sich eine Annäherung vorstellen?

Schmidt: Ich kann mir schon vorstellen, daß man sagt, es muß an einer Volksabstimmung eine Mindestzahl teilnehmen, damit sie gültig ist. Daß man also ein Beteiligungsquorum einführt. Aber das Prinzip „Mehrheit siegt“ außer Kraft zu setzen, halte ich für falsch.

Ehlers: Selbstverständlich müssen solche Regelungen politischen Kompromissen zugänglich sein. Aber ich wäre dafür, überhaupt erst einmal Erfahrungen zu sammeln.

Schmidt: Hier spricht aber jetzt der Politiker.

Ehlers: Das bin ich nun mal.

Schmidt: Was Sie vorschlagen, heißt doch: Das Volk darf mir Anregungen geben. Aber es hat keine reelle Chance, die Forderungen auch durchzusetzen.

Ehlers: Im Augenblick sind unsere Position sehr unterschiedlich. Das ist nicht aus bösem Willen, obwohl ich den bei Herrn Schmidt, der mich eine „Mumie“ genannt hat, nicht ausschließen kann.

Schmidt: Mumie eins grüßt Mumie zwei.

Ehlers: Auf jeden Fall: Das parlamentarische System lebt vom Kompromiß. Die Volksgesetzgebung ist von ihrer Natur her nicht auf Kompromisse orientiert.

Schmidt: Das Zustimmungsquorum abzusenken oder sie in Beteiligungsquoren umzuwandeln – das ist ja alles schon auf dem offenen Markt. Ich aber werde mich nicht auf einen Kompromiß einlassen können, der in der Erfolglosigkeit endet, weil die Hürden zu hoch sind. Das hat mit der Borniertheit der GAL nichts zu tun.

Ehlers: Ihre Glaubenssätze sind ein objektives Problem.

Schmidt: Herr Ehlers, hören Sie zu. Die Frage ist doch nun, ob man von Seiten des Parlaments einen Vorschlag hinbekommt, den auch die Anhänger von „Mehr Demokratie“ akzeptieren. Da die Vorschläge nicht alternativ abgestimmt werden müssen, könnte die Initiative dazu aufrufen, beiden Vorschlägen zuzustimmen.

Moderation: Silke Mertins