Zart-poetische Kleinfamilienhölle

■ Konfusion ist Sex (oder umgekehrt), und Muriel bringt ihre Eltern im FSK zur Verzweiflung

Dem jungen französischen Regisseur Philippe Faucon reichen zwei Szenen, um seinen Film aufzuzäumen und die Geschichte von Muriel zu erzählen: Muriel (Catherine Klein) und ihre Freundin Nora (Dominique Perrier), wie sie nachts in Paris den Bus verpassen, fröhlich, voll jugendlicher Energie. Und Muriel, wie sie still und in sich gekehrt das Haus ihrer Eltern aufsucht. Hier, in der Provinz- und Kleinfamilienhölle, bringt Muriel (wie schon der etwas in die Irre führende Titel verrät) ihre Eltern zur Verzweiflung, hier eröffnet sie ihrer Mutter, daß sie sich sexuell noch nicht eindeutig orientieren könne und wohl lesbisch sei.

Was folgt, sind die sattsam bekannten Empörungen (Was habe ich bloß falsch gemacht? Deine Freundinnen sind doch alle normal!), doch eigentlich ist auch Muriel (noch) voller Verzweiflung, unbestimmter Sehnsucht und Teenage-Angst, ein Mädchen in der Adoleszenzkrise. Faucons Film ist die Geschichte eines Coming-outs, die leise und unspektakulär erzählt wird; die zart-poetisch und intensiv, ausgelassen und leicht zugleich ist und auch voller Anspielungen auf die (rassistische) Alltagsrealität in Frankreich steckt. Ein Film, der mehr erzählt, als es alle amerikanischen 80er und 90er Teen- und Twen-Filme zusammen vermögen.

Muriel also hat sich in Nora verliebt, für Nora aber sind die Zärteleien und Küsse nur ein Spiel. Auch Nora ist auf der Suche, sie probiert es mit Muriel und auch mit ihrem gemeinsamen frankoafrikanischen Freund Frédéric (Serge Germany). Für Nora ist Konfusion Sex und umgekehrt, sie ist scheinbar lockerer und weniger schwermütig als Muriel. Faucon läßt die drei ans Meer fahren und auf Partys gehen, mit der Handkamera fängt er ihre Sympathie und ihre gegenseitiges sexuelles Interesse ein, die Fragezeichen, die sich bei jedem Blick und bei jeder Berührung ergeben.

Alles scheint für die drei möglich zu sein, auch in einer Welt, in der der Cafébesitzer und die alte Frau in der Kleingartenkolonie üble Rassisten sind und Frauen aus nordafrikanischen Ländern fliehen, weil dort die Fundamentalisten auf dem Vormarsch sind. Ein wenig bemüht und oberlehrerhaft wirken solche in den Film eingestreuten Szenen manchmal. Zumal Muriel zu sehr mit ihren eigenen Verstrickungen beschäftigt zu sein scheint, als daß so was für sie wirklich von Interesse wäre. Lustig aber wird es, wenn sie an der Metrostation Stalingrad aussteigt oder Nora beim Tanzen eine sowjetrussische Fahne um ihren Körper schlingt: There must be a better life unter der Knute von Hammer und Sichel? Wohl kaum. Das aber bei Teens und Twens noch unterentwickelte Gefühl für die Tragbarkeit menschlicher Beziehungen ermöglicht zumindest Muriel am Ende des Films, für sich etwas klarer zu sehen, und gerne würde man ihr dann noch länger dabei zusehen, wie sie ihr Leben im folgenden lebt. Gerrit Bartels

„Muriel bringt ihre Eltern zur Verzweiflung“. Regie: Philippe Faucon. Drehbuch: Ph. Faucon, Catherine Klein. DarstellerInnen: C. Klein, Dominique Perrier, Serge Germany u.a.), FSK-Kino, Oranienplatz