Schwanger dank Schering

Schlafmützigkeit der brasilianischen Filiale bringt Berliner Pharmakonzern in die Bredouille. Präsident Cardoso nutzt Vorfall weidlich für seinen Wahlkampf aus  ■ Aus Rio Patricia Sholl

„Microvlar“ von Schering do Brasil in São Paulo ist Brasiliens mit Abstand meistverkaufte, dazu billigste Antibabypille – täglich melden sich mehr Frauen, bei denen sie absolut nicht funktionierte – bisher sind rund 20 Konsumentinnen im zweiten, dritten, vierten Monat schwanger, die von dem Pharmamulti nun Schadenersatz wollen und nach allerletzter Firmenerklärung auch kriegen werden. Böser Streit dürfte um die Beweislast entbrennen, da die wenigsten Frauen die aus einer unwirksamen Testcharge stammenden Schachteln aufbewahrten.

Laut Schering waren im Januar beim Probelauf einer neuen superschnellen Verpackungsmaschine über 600.000 Schachteln mit den Wirkstoff-freien Pillen hergestellt und wie üblich an eine Entsorgungsfirma übergeben worden. Bevor alles in den Verbrennungsofen geschüttet wurde, mußte irgendjemand Packungen entwendet haben – wie viele, weiß man noch immer nicht. In der kurzen Abwiegelphase erklärte Schering ungeschickterweise, es sei unklar, ob von der Testcharge überhaupt etwas in Apotheken gelangte.

Am Mittwoch erklärte das Sekretariat für Wirtschaftsrecht, daß Schering viereinhalb Millionen Mark Strafe zahlen müsse, weil es bei den Pillen gegen elf Artikel der Verbraucherschutzordnung verstoßen habe. Ebenfalls am Mittwoch begann der Berliner Multi auch in landesweit geschalteten Anzeigen seine Sicht der Dinge darzulegen, ein Team des Stammhauses jettete nach São Paulo. Doch das war mindestens einen Monat zu spät. Denn seit Mai, vielleicht sogar noch früher, wußte man von der Pillenpanne, hätte über die Medien alle Konsumentinnen sofort vor den Placebo-Packungen warnen können, die an der auffällig monotonen Numerierung leicht erkennbar sind.

Die Schlafmützigkeit bot der Mitte-rechts-Regierung des Präsidenten – und FU-Berlin-Ehrendoktors – Henrique Cardoso ausgezeichnete Wahlkampfmunition. Der Großgrundbesitzer will die achtgrößte Wirtschaftsnation auch eine zweite Amtsperiode dirigieren, doch bisher war alles Soziale sein absoluter Schwachpunkt. Kirche und Opposition warfen ihm vor, extrem unsensibel auf die Dramen in Hospitälern und Slums, die Todesschwadronen oder die jährlich über 10.000 Morde in Rio de Janeiro zu reagieren.

Im Falle Schering trumpfen Cardoso und sein Gesundheitsminister Serra nun auf, daß es fast lächerlich ist: Mit viereinhalb Millionen Mark Strafe verhängten sie gegen Schering eine Rekordbuße, lassen den Konzern mit Prozessen überziehen und drohten sogar mit der dauernden Schließung des zunächst für eine Woche stillgelegten Betriebs. Cardoso donnert vor den TV-Mikros, die Verantwortlichen müßten ins Gefängnis und ruft bei einer „Microvlar“-Schwangeren an, sucht sich unter den Pillenopfern eine Journalistin, die marktgerecht zu verbreiten weiß, wie nett und menschlich Cardoso ihr alle erdenkliche Hilfe offeriert habe.

Eine Fürsorglichkeit des Staates hätten sich auch jene über 100 Alten gewünscht, die vor zwei Jahren in grauenhaften geriatrischen Kliniken Rios wegen barbarischer, fahrlässiger Behandlung elend starben. Oder jene 80 Mütter von Rio: Anfang dieses Jahres starben ihre neugeborenen Babys innerhalb von nur 30 Tagen in einer öffentlichen Entbindungsklinik – fehlende Mittel, fehlendes Personal, fehlende Ausrüstung und Hygiene. Und kein Anruf vom Staatschef, kein Besuch vom Gesundheitsminister. Lepra, Malaria, Tuberkulose grassieren weiter – der Pillenskandal überdeckt erst einmal alles. Seit Jahren prangert der brasilianische WHO-Experte Carlos Zanini vergeblich an, daß von 1.000 angebotenen Medikamenten nicht weniger als 200 gefälscht und unwirksam sind, die Fälschermafia setzt jährlich für rund eine Milliarde Dollar Arzneimittel um. Sie dürfte auch weiterhin zu den Boombranchen gehören – Scherings in 44 Jahren aufgebauter guter Ruf in Brasilien ist dagegen erst mal im Eimer.