Der Tellerrand kann hoch sein

■ betr.: „Jetzt wollen wir den ganzen Kuchen“ von Jan Feddersen, taz vom 27./28.6.98

Vor lauter Tellerrändern kann einem schon mal schwindelig werden und Forderungen, die an die Gesellschaft gerichtet sind, mit dringenden Lebensempfehlungen verwechseln – auch ein hauptberuflicher Meinungsmacher sollte das dürfen. „Für sie [die „traditionelle“ Schwulenbewegung] ist alles, was über den eigenen Tellerrand hinaus sich tut, alles, was sich mit ihren Vorstellungen von einer befreiten Welt nicht in Einklang bringen läßt, schwer zu ertragen.“ Wer ist nicht in der Lage, über den eigenen Tellerrand zu schauen, wenn die Homo-Ehe beständig in den Mittelpunkt der Homopolitik gerückt wird? Kann es sein, daß keine „befreite Welt“ vorliegt, wenn „das, was sich tut“, schwer zu ertragen ist? Der Blick über den Tellerrand scheint eine große Wiese homosexueller Paare zu offenbaren. „Wenn [„die Paare“] einfach nur die gleichen Rechte wollen, wie die Heteros sie längst haben“, dann ist das ihr gutes Recht, wer sagt etwas anderes, lieber Jan Feddersen? Aber wer sagt denn, daß nach dem Erreichen der eingetragenen Partnerschaft noch ein weiterer effektiver solidarischer Kampf folgt, der anderen Minderheiten ebenso zu ihrem Recht verhilft und das staatlich geförderte „Zweisamkeitssystem“ danach einreißt? Wer sagt denn, daß die „Schwulenbewegung“ sich danach nicht aus dem Staub macht und es dabei bleibt, daß nur Paaren ein Kind adoptieren können, nur (eingetragene) Partner sich „bevorzugt“ beerben dürfen, nur Paare...

„Und wenn die Adressaten nicht wollen? Wenn es („den Paaren“) erst mal reicht, rechtlich nicht mehr behelligt zu werden?“, steht es in der taz geschrieben. Wie schnell kann ein „erst mal“ gestrichen sein.

„Verweigerte Chancen für eine Unverschämtheit zu halten“ – hört sich gut an. Ist es nicht auch eine Unverschämtheit, wissend eine mögliche ENTsolidarisierung mit den „Übriggebliebenen“ zu riskieren? Der Tellerrand kann so hoch sein. Ralf Lottmann, Bremen