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Beschiß, wenn Sie so wollen

Weil die eigenen Probleme benannt, aber trotzdem nicht zu lösen sind, beginnen Regisseure, welche anschaffen zu gehen. Jeder will ein anderer sein. Das Festival Theaterformen begann in Hannover mit hysterisierender Anverwandlung und misanthropischem Agitprop  ■ Von Petra Kohse

„Kein Durchgang. Bitte benutzen Sie den Haupteingang“ steht auf einem Schild im Haupteingang des Bahnhofs in Hannover. Das erinnert an das Berliner Bahnhofsplakat mit den Porträts von Sissi, Bismarck und Fontane: „Anläßlich ihres 100. Todestages ehrt Bad Kissingen seine drei berühmten Gäste mit einem kulturellen Feuerwerk.“ Jeder möchte etwas anderes sein. Der Haupt- lieber der Nebeneingang, Bad Kissingen lieber Wien oder Berlin. Wobei die Love Parade sicher auch nicht recht wäre. Wegen des Mülls.

Den Haupteingang trotzdem benutzen! Sich fußgängerzonal dem Strom einspeisen und an der Leine wieder abklemmen. Vor dem Ballhof Theater ist eine Tribüne aufgebaut, doch sie zeigt weg vom Haus und bedrängt eine Teestube und eine Boutique, Nice Price. Der Ballhofplatz möchte ein Stadion sein. Für den Jazz, den es sonntags um elf Uhr hier gibt.

Mit euphorisierten Gesichtern strömen jetzt die Besucher heran, die die Eröffnung des Festivals Theaterformen drüben im Schauspielhaus nicht verpaßt haben. Heiner Goebbels finde sie immer gut, schwärmt die Kollegin aus Zürich. Drinnen auf der Ballhofbühne aber wird die Fröhlichkeit nicht mehr gebraucht. Schwarzes Granulat rieselt aus Zinkeimern und wird zu einem Streifen zusammengekehrt. Eine einsame Säule ist erst weiß, dann schwarz. Blinde Laiendarstellerinnen tanzen Sirtaki, und ein kräftiger Schauspieler trägt über der Anzughose ein zerrissenes rotes Abendkleid.

„wunde.oidipus“ heißt die erste Eigenproduktion der Theaterformen, die von Marie Zimmermann kuratiert wurden und bis 18. Juli in Hannover und Braunschweig stattfinden. Die Premiere war letzten Donnerstag. „Ödipus auf Kolonos“, des Sophokles' Drama um das Emigrantendasein des Unglücklichen als blinder Greis, rollenlos dargeboten: ein sogenanntes Projekt unter der Regie von Christof Nel. Es geht darum, daß der Mensch im Übergang und das Andere zwar da, die Grenze zum Einen aber fließend sei. Männlich sei weiblich, Glück Verzweiflung, Sehen Blindheit und so. Deshalb wohl wenig Text, viel Leere und Stühlerücken, dann wieder ein Tasten, und die blinden Frauen rücken einem der Ödipusdarsteller auf den Leib: „Na sag doch mal – mit der eigenen Mutter?“

Dabei sind die Grenzen eigentlich scharf gezogen. Sehende können auch sehen, wenn sie blind spielen. Und Blinde sind in der Welt der optischen Zeichen ohne Rettung. Festliche Kleider tragen die fünf blinden Frauen, typgerecht gewählt, doch Kosmonautentracht würde sie nicht fremdartiger umhüllen. Auf der Bühne bestimmt das Aussehen das Bewußtsein, und die Frauen können nicht wissen, wer sie hier sind.

Niemand kann sich amüsiert haben. Trotzdem gibt es am Ende großen Jubel. Vielleicht sollte damit ein Gemeinschaftsgefühl kommuniziert werden. Vielleicht fühlte man sich, da so wenig vermittelt wurde, am Ende selbst irgendwie blind. Was nicht die einzige Angeschafftheit an diesen Eröffnungstagen gewesen wäre. Nicht das einzige Problem, das sich Fernstehende zu solcher Unschärfe heranzoomen, daß sie glauben, sich darin spiegeln zu können.

So hatte am nächsten Tag „Hänsel e Gretel“ Premiere, eine Produktion der italienischen Societas Raffaelo Sanzio, ein Unternehmen der Familie Castellucci. Draußen noch, in einer zugigen Halle im Pelikanviertel, war alles möglich, drinnen kroch man im Bauch der Geschichte herum, in einem nach Tannen duftenden Labyrinth niedriger Gänge, und bemühte sich, nicht zu fragen, welches Menschenbild Leute haben, die mit Schockeffekten die ausweglosesten Stellen des Märchens sampeln.

Der Vater in Lumpen zieht gebückt seines Weges, die Kinder (die echten Kinder der Castelluccis!) finden auf ihren ärmlichen Betten die eigenen Gräber aufgeschüttet, die Hexe hat „Tot für alle“, und die listige Befreiung ist auf eine kettenrasselnde Treibjagd beschränkt: „Terror, Horror, Bangigkeit“. Schon in ihrer „Orestie“ hatte die Societas keinen Zweifel daran gelassen, daß es die Urschuld des Menschen sei, Mensch zu sein, und nur der Behinderte Gnade finde: als einer, der nicht handeln kann. Schlimmer geht's immer, lautet die Botschaft jetzt, weswegen an das gute Ende keiner glauben kann. Misanthropischer Agitprop, der selbstredend für authentisch gehalten wird: die Societas sei „mit diesem Märchen wieder bei ihrem Ursprung angelangt“, heißt es im Programmbuch.

Derlei Anverwandlung läßt an eine Reaktion auf das französisch- senegalesische Gastspiel bei der Bonner Biennale denken. „Gesänge auf den Dreck“ ist eine Produktion mit ehemaligen Straßenkindern aus Dakar und besteht aus einem Film und einer Performance, in der das Publikum Jugendliche anstarrt, die das Publikum anstarren. Tage später sagte eine Frau in der Diskussion, die Aufführung habe sie entsetzlich hilflos und betroffen gemacht, noch immer werde sie davon verfolgt. Ihre Emotionalitätsradikale an eine soziale Realität andockend, zu der sie keinen Bezug herstellen konnte, machte sie sich mitleidend zum eigentlichen Opfer.

Es wundert nicht, daß sich der Regisseur Jean-Michel Bruyère, der seinen Beistand verweigerte („Ich kann Ihnen nicht sagen, ob Sie klatschen sollen oder nicht. Es ist mir egal“), der Arroganz nachhaltig verdächtig machte. Regisseure westlicher Industrienationen zeigen sich tatsächlich kooperativer. Dem Problem, daß alle unsere Probleme benannt, aber trotzdem nicht zu lösen sind, begegnen sie mit schwammiger Projektion wie Nel, hysterischer Kolportage wie Castellucci oder selbstreferentieller Betulichkeit wie Elmar Goerden. „Das Meer war groß“ hieß ein Abend, der wohlig mit Wein und Käse für alle begann, an doppelreihig im Karree gestellten Tischen. Dann aber improvisierten Studenten des Salzburger Mozarteums auswendiggelernt über das Schauspielen. Texte von Stanislawski oder Diderot führen zu entsprechenden Versuchen mit Shakespeare.

Kunstseidene Natürlichkeit zwischen gestelztem Spiel und theoriehubernden Dialogen, auch das findet sich problembewußt. Oder wie der Regisseur es ausdrückt: „Theater verträgt kein Tageslicht. Es ist Zauberei. Beschiß, wenn Sie so wollen.“ Willkommen im 20. Jahrhundert. Auch der Bettelnde vor dem Ballhof hätte sicher gerne jemanden beschissen. Doch als er die erste Mark bekam, eilte er erschrocken davon.

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