Nie wird Mario Zagallo das Stigma loswerden

■ Mann des Tages: Der Nationaltrainer, der es den Brasilianern niemals wird recht machen können

Gewinnen kann Mario Zagallo (66) nicht, allenfalls siegen. Wahrscheinlich werden ihn die Brasilianer noch beschimpfen, wenn er am Sonntag den Weltpokal in der Hand hält. Was passiert, wenn ihm das nicht gelingen sollte, darüber möchte man besser gar nicht erst nachdenken. Dabei müßte sich die fast pathologische Abneigung eines großen Teils der brasilianischen Presse, folglich auch des Publikums und prominenter Kritiker wie Pelé, inzwischen eigentlich gelegt haben. Denn Zagallos Mannschaft spielt keinesfalls den vorausgesagten, defensiven Zweckfußball.

Der Blick auf die wahre Klasse des brasilianischen Teams wird allerdings durch den weltweiten Brasilien-Hype verzerrt. Beim Training der Mannschaft in Ozoir-La- Ferriere pfeifen die Fans sogar schon beim Training, wenn Ronaldo ein Ball verspringt. Und die Zuschauer am Fernseher erwarten bei den Spielen solch lustige Gimmicks, wie sie die vor dem Anpfiff im Werbespot für „Nike“ gesehen haben. So geht dann zügig unter, daß die brasilianische Seleçao nichts weniger als die beste Mannschaft des Turniers ist.

Das ist sie nicht etwa trotz ihres Trainers, sondern weil Zagallo stur an seiner Linie festgehalten hat. Er hat den nüchternen Zweckfußballer Dunga in die Mitte des Spiels beordert, wo der 34jährige seine Mitspieler unter eiserner Kuratel hält. Dunga würgt aber nicht etwa die Einfälle der Seinen ab, er sorgt nur dafür, daß sie nicht auf Kosten des Gesamterfolgs gehen.

Trotz aller Forderungen nach den Publikumslieblingen Edmundo und Denilsson hat Zagallo an Bebeto als Sturmpartner von Ronaldo festgehalten. Mit dem Erfolg, daß beide Angreifer je drei Tore erzielt haben, und der 20jährige Denilsson jeweils als Joker überzeugte. Und das Thema Edmundo ist nach seiner 18minütigen Blamage gegen Marokko keines mehr.

Man darf zwar herumkritteln, daß die Seleçao manchmal die Effizienz zu sehr in den Vordergrund stellt, aber für die durchgehend besten B-Noten im künstlerischen Ausdruck reicht es trotzdem allemal. Bislang hat Brasilien in jedem Spiel – außer gegen ihr Schreckgespenst Norwegen – Aktionen gezeigt, zu denen keine andere Mannschaften bei dieser WM in der Lage ist.

Aber all das wird Mario Zagallo nicht helfen. Er wird vermutlich nie das Stigma loswerden, daß er als Spieler in den Weltmeistermannschaften von 1958 und 1962 seine Stürmerposition als zurückhängend interpretierte. Sich sozusagen als ein Angreifer auf dem Rückzug verdächtig machte. Die Meriten für den Titelgewinn Brasiliens 1970 gingen auch weniger an ihn als Trainer, sondern an die Mannschaft um Pelé. „Das Problem ist halt, daß der Fußball sich seit 1970 stark verändert hat. Es gibt keinen Platz mehr für Phantasie, also werden wir solchen Fußball nicht mehr wiedersehen“, sagt Mario Zagallo. Allerdings, so ergänzt er, ist seine heutige Mannschaft zu gelegentlichen Näherungen an dieses Goldene Zeitalter in der Lage. Christoph Biermann