■ Die Genfer Aidszahlen und die Reaktion der Weltgemeinschaft
: Randnotiz im Amüsierbetrieb

Man kann das Wortspiel schlecht ins Deutsche übersetzen. Der venezolanische Aidsaktivist Alberto Nieves sagte in einem Workshop auf der Genfer Aids- Weltkonferenz, daß er und seine Mitstreiter ihre Rolle geändert hätten: „From patients to impatients“, vom Patienten zum Aufsässigen.

Aufsässig, weil sie mitansehen müssen, wie die Reichen mit dem Virus weiterleben und wie sie selbst armselig daran sterben. Patient oder impatient – ein schönes Wortspiel, doch die Realität ist eine andere. Im selben Arbeitskreis berichtete der Nigerianer Pat Monye darüber, daß in seinem Land viele ihre Infektion nicht nur gegenüber der Öffentlichkeit, sondern selbst in der eigenen Familie geheimhalten. Und die meisten wissen selbst noch nicht einmal, daß sie infiziert sind. Neun von zehn Afrikanern bleiben ungetestet und ohne HIV-Diagnose, bis die ersten Krankheitssymptome keine andere Interpretation mehr zulassen. Die große medizinische Katastrophe dieses Jahrhunderts findet in manchen Ländern weitgehend unter Ausschluß der Öffentlichkeit statt. Die 30,6 Millionen Infizierten weltweit sind alles andere als Aufsässige. Sie sind eine zwar irgendwie beunruhigende, aber doch graue Masse im Katastrophenkonzert.

Die Genfer Aids-Weltkonferenz hatte viele Facetten. Doch die Infektionszahlen aus dem südlichen Afrika haben alle anderen Themen überstrahlt. In Botswana und Simbabwe sind 25 Prozent, jeder vierte Erwachsene, in manchen Städten schon jeder zweite infiziert. Bisher gibt es nicht nur keine angemessene Reaktion auf diese Entwicklung, sondern auch kein Bewußtsein, keinen wirklich einfühlsamen Anblick des Ungeheuren. Man vermag es sich nicht vorzustellen, was dies bedeutet, und man will es auch nicht. Nachdem zu Beginn der Epidemie das Massensterben beschworen worden war, erlahmt die Aufmerksamkeit just in dem Augenblick, in dem es eintritt. Aids hat sein Gruselpotential offenbar verbraucht, selbst wenn es schon im nächsten Jahrzehnt zur wichtigsten Todesursache unter allen Krankheiten wird.

So kommt das Aufbäumen gegen die Verwüstung Afrikas nicht von moralischen Instanzen, von Linken, Oppositionellen oder Dritte-Welt-Gruppen. Die Hoffnung ruht derzeit einzig auf der Weltbank und der UN. In der Öffentlichkeit hat Aids seine frühere Sonderstellung verloren. Die rollende HIV-Lawine hat inzwischen denselben Status wie die anderen Killer in den Hinterhöfen der Dritten Welt. Sie sind nur noch eine bunte Randnotiz im Amüsierbetrieb. Manfred Kriener