Die Equipe sucht nach Wahrheit

Vor dem heutigen Halbfinale gegen Kroatien steht für die französische Öffentlichkeit der Sieg bereits fest. Bleibt nur die Frage, ob er auch angemessen spektakulär ausfällt  ■ Von Christoph Biermann

Paris (taz) – Mal sehen, wie lange sie diesmal brauchen. Im Viertelfinalspiel waren es nur 18 Minuten, bevor die Zuschauer im Stade de France zum ersten Mal losmaulten und pfiffen. Schließlich spielte das französische Team nur gegen den Außenseiter aus Italien und hatte zu jenem Zeitpunkt erst eine Handvoll Torchancen herausgespielt. Aber sie hatten noch kein Tor geschossen. Mit dem Publikum bei den Spielen der französischen Nationalmannschaft in Paris verhält es sich wie mit den Besuchern eines Konzerts der Drei Tenöre. Wie es dort nicht um Gesangskunst geht, so ist die französische Mannschaft nicht zunächst für Fußball zuständig, sondern zur Produktion von Siegen und zur Erfüllung nationaler Größenphantasien der zumeist wenig sachkundigen Zuschauer.

Aushalten müssen das die Spieler und besonders Aimé Jacquet. Der Nationaltrainer ist deshalb empört über eine Presse, die zu den überzogenen Erwartungen viel beigetragen hat. „Ich bin vom Auftreten der Presse peinlich berührt, weiß aber seit langem, daß ich es mit wenig ernsthaften und inkompetenten Rowdys zu tun habe“, sagte Jacquet, der nach dem Turnier auf jeden Fall zurücktreten wird. Aufgrund der Kritik an seinem wenig schillernden Auftreten und einer vermeintlich zu defensiven Taktik wurde der 56jährige bislang jedesmal ausgepfiffen.

Inzwischen beginnt sich die Stimmung aber etwas zu drehen, nach dem Sieg gegen Italien gab es ersten zaghaften Beifall für ihn. Schon vor dem Erfolg im Viertelfinale änderte auch die französische Sportzeitung L'Equipe erstmals vorsichtig ihre ablehnende Haltung gegenüber seiner Taktik, die nur einen nominellen Stürmer vorsieht. Allerdings könnte der Honeymoon mit den Medien von nur kurzer Dauer sein. Daß es im Halbfinale nicht zum Spiel gegen das „alte deutsche Monster“ (La Provence) kommt, sondern gegen den Außenseiter Kroatien (21 Uhr, ARD), bedeutet für die Mehrheit der französischen Fans eine Art automatische Qualifikation fürs Finale. Auf dem Weg dorthin wird die „Equipe Tricolore“ jedoch erneut mit ihrer größten Schwäche zu kämpfen haben. „Wir haben ein Offensivproblem“, meint Mannschaftskapitän Didier Deschamps. Nachdem die französische Mannschaft in der Vorrunde gegen relativ leichte Gegner neun und damit die meisten Tore geschossen hatte, tat sie sich danach gegen „hyperhyperdefensive Gegner“ (Laurent Blanc) wesentlich schwerer.

Im Achtelfinale gegen Paraguay gelang mit Blanc ausgerechnet einem Verteidiger das Golden Goal, gegen Italien waren die Franzosen erst im Elfmeterschießen erfolgreich. Diese bedenkliche Bilanz hat nichts damit zu tun, daß die Mannschaft zu defensiv spielen würde und nicht zu Gelegenheiten käme. „Wir schießen zuwenig Tore, obwohl wir genug Chancen haben. Das ist eine Frage der Kaltblütigkeit und das einzige, worüber ich mir wirklich Sorgen mache“, sagt Jacquet.

Kein anderes Team hat nur annähernd so häufig einen Angriff abgeschlossen (129mal) und dabei aufs Tor getroffen (68mal) wie das französische, es reichte bislang jedoch nur zu 10 Treffern. Das ist wenig effizient, wie ein Vergleich mit Brasilien zeigt, die vor dem Halbfinale nur 31mal aufs Tor geschossen, damit aber 13 Tore erzielt haben. „Djorkaeff ist für mich kein Stürmer. Und eine Spitze allein kann heutzutage gegen kompakte Abwehrreihen nicht viel ausrichten“, äußerte auch Frankreichs Alt-Internationaler Just Fontaine, mit 13 Toren immer noch Rekordhalter bei WM- Endrunden, seine Zweifel. Die Bilanzen von Youri Djorkaeff sowie David Trezeguet sind in der Tat wenig überzeugend, sie benötigten 19 bzw. 17 Torchancen, um jeweils nur einen Treffer zu erzielen. Nur der 20jährige Thierry Henry hat mit drei Treffern bislang überzeugt.

Bei allen ernsthaften Bedenken, daß die Franzosen wegen ihrer Sturmschwäche an Kroatien scheitern könnten, sind die Spieler von der permanenten Kritik inzwischen jedoch etwas entnervt. So fragte Laurent Blanc gereizt: „Wollt ihr etwa mit fünf Stürmern spielen, damit wir dem französischen Esprit genügen – um dann 0:1 zu verlieren. Wo liegt die Wahrheit?“ Die Antwort dürfte, zumindest aus Sicht des Publikums, relativ klar sein: Mit fünf Stürmern spielen und 5:0 gewinnen.