Keine Helden weit und breit

■ Nettie Wilds schonungslose Dokumentation A Place Called Chiapas startet im 3001

Die schwarze Wollmütze tief über den Kopf gezogen, nur mit kleinen Augenschlitzen versehen – und einer Mundöffnung, aus der die qualmende Pfeife ragt. Das Antlitz des geheimnisumwobenen Revolutionärs bekam die Weltöffentlichkeit noch nie zu Gesicht.

Eine Figur wie der mexikanische Rebellenführer Subcomandante Marcos verführt schnell zu Mystifizierung. Insbesondere wenn er sie selbst zu forcieren versucht. „Es ist schwierig, mit einem Mann umzugehen, der schon zu Lebzeiten eine Legende geworden ist“, berichtet Nettie Wild in einem taz-Interview. Die Regisseurin von A Place Called Chiapas steht den Selbstinszenierungen des Rebellen kritisch gegenüber: „Mein Film ist kein revolutionärer Kitsch!“ Im Gegensatz zu den kleinen handgemachten Zapatista-Püppchen, die als Souvenir in Mexiko an jeder Straßenecke zu haben sind.

Eigentlich hatte die Kanadierin vor, das Leben der Guerilla-Armee in den Dschungelcanyons der Krisenregion zu filmen, doch der Film entwickelte eine Eigendynamik. Während einerseits die Lage zur Zeit des Waffenstillstands und der Friedensgespräche der Jahre 1996/97 zwischen Regierung und zapatistischer Führung behandelt wird, kommt bei den Dreharbeiten eine weitere Dimension eher zufällig hinzu: Der zwischen den Fronten seit Februar 1994 vermittelnde Bischof Samuel Ruiz García verweist die Regisseurin auf einen versteckten Krieg im Norden des mexikanischen Bundesstaats Chiapas. Dort, in nicht-offiziellem Zapatisten-Gebiet, sind tausende mit der Zapatistischen Armee der Nationalen Befreiung (EZLN) sympathisierende Zivilisten auf der Flucht vor den regierungstreuen Paramilitärs „Paz y Justicia“ – auf deutsch „Friede und Gerechtigkeit“.

In der fernen Bergregion Chiapas, weit entfernt von der Aufmerksamkeit internationaler Presse, wird die Unterstützung der paramilitärischen Bande durch die mexikanische Regierung offensichtlich. Staatliche Militärs fordern Nettie Wild auf, nicht zu filmen. Sie läßt trotzdem die Kamera laufen. Ihr Team gerät in Lebensgefahr, aber die Campesinos können schließlich in ihre Dörfer zurückkehren – und der große Marcos steht recht unheroisch daneben.

Die Regisseurin, ganz klar auf Seiten der Unterdrückten, läßt alle Parteien zu Wort kommen und gewährt so Einblick in die Hintergründe des Kampfes: Der Subcomandante darf ebenso seine Meinung kundtun wie Vermittler Samuel Ruiz García oder die einheimischen Campesinos und kontrastierend auch die Großgrundbesitzer, die von der Regierung unterstützt werden.

Wild schildert dramatisch, doch noch dramatischer ist die aktuelle Entwicklung: In den letzten Wochen hat sich der Konflikt noch verstärkt. Anfang Juni stieg Bischof García aus den Vermittlungsgesprächen aus, die staatlichen Militärs begannen direkten Terror gegen die Zivilbevölkerung und überfielen mehrere Dörfer. Die Regierung verfolgt eine Verschleierungstaktik; die Zahl der Toten und Verletzten ist nicht bekannt, da Internationale Beobachter des Landes verwiesen werden. Umso bedeutungsvoller ist es also, daß Nettie Wilds Dokumentarfilm gerade jetzt regulär ins Kino kommt.

Isabel Gentsch

Do, 9. bis Mi, 15. Juli, 20.30 Uhr, 3001. Am Donnerstag gibt das Quartett Alcatraz vor der Vorstellung ein Konzert (20 Uhr).