Wer nichts tut, ist dran

■ S-Bahn-Führer wegen unterlassener Hilfeleistung auf Bewährung verurteilt

Dieter G. war bis gestern ein unbescholtener Bürger. Seit 18 Jahren arbeitet er pflichtbewußt bei der Hamburger S-Bahn. Doch auch „wer nichts tut, macht mit“, wirbt sein Arbeitgeber; und das Hamburger Amtsgericht folgte gestern diesem Motto. Es verurteilte den 57jährigen Zugführer wegen unterlassener Hilfeleistung zu sechs Monaten auf Bewährung.

An einem Sonntag im August vorigen Jahres, kurz nach sechs Uhr morgens, war es in der S 1 zwischen Reeperbahn und Landungsbrücken zu einem Streit zwischen einem Marokkaner und einem Schwarzafrikaner gekommen. Beim Halt an den Landungsbrücken griffen mehrere Fahrgäste ein, woraufhin der Marokkaner auf einen von ihnen auf dem Bahnsteig einstach und ihn lebensgefährlich verletzte. Die Zeugin Martina N. forderte Zugführer Dieter G. auf, über Funk Hilfe zu holen. Aber „er weigerte sich und meinte, das gehe mich gar nichts an“, so die Zeugin gestern. Dieter G. will auf dem Bahnsteig nur „zwei ruhig stehende Männer“ gesehen haben. Die S-Bahn setzte ihre Fahrt fort.

Das Video der Zentralen Zugabfertigung zeige allerdings deutlich die Rangelei neben dem Fahrerhäuschen, befand das Gericht. Zwar hielt Richter Alexander Rudolph dem Angeklagten, der demnächst in Frührente geht, zugute, daß er die Messerstiche nicht habe sehen können. Auch habe die Abfertigung der sehr vollen S-Bahn Streß für den Zugführer bedeutet. Es könne aber „nicht hingenommen werden, daß sich im öffentlichen Nahverkehr die Haltung breitmacht: Ich greife nur bei massiven Vorfällen ein.“ Das Gericht folgte in Urteilsbegründung und Strafmaß dem Plädoyer von Staatsanwältin Petra Neddermeyer, die ein „deutliches Zeichen für die Öffentlichkeit“ gefordert hatte. Verteidiger Peter Matzner hatte auf Freispruch plädiert.

Inwiefern die S-Bahn-GmbH eine Mitverantwortung für den Vorfall trägt, wollte deren Sprecherin Katrin Fech gestern nicht sagen, „das ist Sache der Gerichte“. Selbstverständlich würden die Mitarbeiter auf Streßsituationen ausreichend vorbereitet. Und statt auf mehr Personal auf den Bahnhöfen setzt die S-Bahn auf ihre neue Videoüberwachung, mit der man dann „alles im Blickwinkel hat“.

Heike Dierbach