Geboren aus Fortschrittsglauben

■ Ost-West-Straße: Narbe im Stadtkörper oder Denkmal der automobilen Stadt? Von Maren Böttcher

Der Weltrekord der Männer für hundert Meter Sprint liegt bei 9,8 Sekunden – gedopt. Wie schnell muß ein Fußgänger laufen können, wenn er die dreißig Meter breite Fahrbahn der Ost-West-Straße überqueren will, wo spätestens alle vier Sekunden ein Auto seinen Weg kreuzt? Schneller – oder höher.

Eine Fußgängerbrücke in flottem Blau zieht per Rolltreppe ge-dopte wie ungedopte Straßenquerer in die erste Etage des Verkehrs. In luftiger Höhe dürfen sie die Laster unter sich dröhnen lassen. Auf der anderen Straßenseite führt eine Treppe auf den Bürgersteig hinab. Verkehrsplanung aus einem Guß, praktisch für Kinderwagenschie-ber, Fußkranke und Rollstuhlfahrer. Kein Ort zum Flanieren.

An Flaneure hatten die Städteplaner Otto Sill und Heinrich Strohmeyer nicht gedacht, als sie sich 1950 an die Verwirklichung eines dreißig Jahre alten Traums machten. „Die Möglichkeiten für den Bau moderner und leistungsfähiger Straßenanlagen sind, besonders in den Kerngebieten der Stadt, begrenzt“, begründeten sie die Notwendigkeit einer breiten Autoschneise parallel zur Elbe quer durch die Innenstadt.

Inmitten der Kriegstrümmer fand die Sehnsucht der Stadtplaner nach einer schönen, neuen Welt einen Ausweg: Dem „modernen Kraftfahrzeug“, Symbol des Fortschritts, sollte der Weg gebahnt werden durch die verwinkelten Gassen der Hamburger Stadtteile Neustadt und St. Pauli.

1964 konnte das Wunderwerk nach elf Jahren Bauzeit fertiggestellt werden. Ein Gutteil der Gläubigen der zerstörten Hauptkirchen Nikolai und des verschonten Michel wurde umgesiedelt: Trotz der Bomben des Zweiten Weltkrieges standen noch Häuser auf dem breiten Fortschrittspfad der Ost-West-Schneise.

Nun durchschneidet eine „Hauptdurchmesserlinie“ das einstige Herz der Hamburger Altstadt auf zwei Kilometern Länge und teilt sie in einen nördlichen und einen südlichen Teil. Auf 68.000 Quadratmetern Straßenfläche ziehen hier werktags 65.000 Autos täglich am automatischen Verkehrsmesser der Baubehörde vorbei. Eine „Induktionsschleife“ mißt die Metallmasse der Wagen, die am Herrengrabenfleth vorbeirasen – damit lassen sich sogar PKWs und Lastwagen unterscheiden.

Heute ist die öffentliche „Befriedigung“ über die „leistungsfähige Straßenanlage“ im Schwinden. Sogar die CDU hat sich um tiefschürfende Lösungsvorschläge bemüht: Man möge doch den Verkehr in einen Tunnel unter der Straße verbannen und obenauf ein Einkaufszentrum, eine Flaniermeile unserer Tage draufsetzen. Oberbaudirektor Egbert Kossak gar träumte jüngst in seiner Hamburg-Meditation „Stadt im Überfluß“ davon, der Ost-West-Straße ihren brausenden Verkehr aus der Innenstadt auf eine Autobahntangente im Hafen zu entführen. Auf seinen Zeichnungen säumen Baumreihen die verschlankte Paradestraße der 50er Jahre und verdecken jene unbelebten Büro- und Parkhäuser, die das heutige Autofahreridyll umrahmen.

Spötter wie Michael Berger, Kulturredakteur der Woche, gehen einen genialen Schritt weiter: „Die Ost-West-Straße ist ein einzigartiges kulturgeschichtliches Denkmal. Fast alle anderen deutsche Großstädte haben ihre innerstädtischen Automeilen der 60er Jahre inzwischen postmodern verunziert oder mit unpassendem Grün verschleiert.“ Berger will die Automeile unbedingt erhalten wissen – allerdings nicht als Autobahn: „Ich stelle mir eine reine Fußgängerzone vor, in der einige Automonumente unter Acrylharz, darunter auf jeden Fall ein Borgward und ein Karmann Ghia, sowie natürlich ein Volvo-40-Tonner, die einstige Nutzung sinnlich transportieren!“ Und der Verkehr? Berger sieht keine Probleme: „Autos finden immer ihren Weg.“