Fragezeichen in der Landschaft

■ Jazz, Pop, Musical, Avantgarde: eine Sommer-Schlenderei durch Hamburgs Kultur-Wochenende in fünf Etappen

West Port: Gilberto Gil/Mellowman

Es läßt sich trefflich über die Qualität der Auftritte streiten beim diesjährigen West-Port-Festival. Worüber allerdings Einigkeit herrscht, nachdem das Festival sich dem Ende zuneigt, ist, daß es kaum mehr ein solches ist. Zu weit liegen sowohl die Künstler als auch die Veranstaltungsorte auseinander. Statt sich unter das tropfende Festzelt zu zwängen, wurde das Festival auf diverse Orte verteilt und mit dem Medienzentrum in der Rothenbaumchaussee eine Halle gewählt, die an Sterilität und Austauschbarkeit kaum mehr zu übertreffen ist. Die Glas-und-Stahl-Architektur eignet sich kaum für Ekstasen.

Mellowman boten allerdings den wenigen Zuschauern auch keinen Anlaß dafür. Was sich auf La Voie Du Mellow noch ganz manierlich ausnahm, geriet angesichts der Spackos im lila Seidenhemd über den Muskelbergen und der Go-Go-Girls eher wie eine Werbeveranstaltung für Fit For Fun oder „Spaß durch Körperertüchtigung.“ Der Nouveau Jacob der Franzosen, eine Entsprechung des auf den afroamerikanischen Mittelstand abzielenden New Jack Swing, klang konstruiert.

Auch bei Gilberto Gil kam keine rechte Freude auf. Der Maestro, der die elektrische Gitarre in den Tropicalismo einführte, machte es diesmal im rosa Seidenanzug mit „E Grupo Acoustico“. Ganz wunderbar begann Gil mit einer Art kammermusikalischem Brazil-Pop von glasklarer Eleganz, um dann leider ins Üppige abzugleiten. Mag sein, daß Gil, der 1969 von der Militärjunta des Landes verwiesen wurde, historische Meriten hat. Allein für das ungeübte und des Portugiesischen nicht mächtige Ohr erinnerte manches an versierten Italo-Pop, wobei die Betonung auf versiert liegt. Volker Marquardt

Hamburg-Oper: „On the Town“

Eben noch fummelt die Braut auf der Chaiselongue, da taucht überraschend ihr Verlobter auf. Chip, der Dritte im Bunde, versucht einen höflichen Rückzug aus der unhaltbaren Position: „Alles Gute, ich muß weg!“

Die Szenerie gehört zu den paar abgestandenen Klischees, die nach Harald Juhnke nicht mehr auf die Bühne gebracht werden sollten. Weit gefehlt. Am Freitag abend fiel die Staatsoper mit der Wiederaufnahme von On the Town ins gähnende Sommerloch wie in einen abgestandenen Tümpel. Mit beinahe bösartiger Langweiligkeit führte John Neumeiers Ballett New York vor. Was erleben drei Matrosen in 24 Stunden in Big Apple? In immer wiederkehrendem tänzerischen Dauerlauf vor blutleeren Freiheitsstatuen und Subway-Pforten sind sie stetig auf der Flucht vor der nymphomanischen New Yorkerin. Die Schlampe hinter dem Persillächeln will dem braven Matrosen ja stets an die weiße Uniform.

Dazu spielte das Orchester farblos und langatmig. Die Hauptfigur des Matrosen Gabey wurde mit Fred Love zwar mit einem Sänger, jedoch keinesfalls einem Tänzer besetzt. Nach anderthalb Stunden fiel der Vorhang zur Pause. Wir hielten uns an den Titel des Abends und gingen – downtown.

Elsa Freese

Trabrennbahn: REM

Ein bißchen merkwürdig war es schon, als einer von 30.000 Zuschauern auf dem Rasen der Trabrennbahn zu stehen, im Nahbereich Kids bei ergreifenden Knutschszenen zu sehen und ganz weit irgendwo da hinten eine riesige Bühne mit gewaltigen schwarzen Lautsprechertürmen, und dann sagt eine Stimme hinter dir: „Also, bei Marius, da war das alles besser.“

Recht hat sie, die Vertreterin der Hennes-&-Mauritz-Fraktion: Organisatorisch gab's Engpässe beim samstäglichen Riesenkonzert von Michael Stipe und Co, vor allem im Getränkesektor (eine Stunde Schlangestehen!). Musikalisch lag die Dame aber selbstverständlich daneben: REM wehren sich weiterhin, die Rolling Stones des Jahres 2010 zu werden. Und – Ende des Modells „Underground versus Mainstream“ hin oder her – als Werbepartner für VW kommen sie auch noch nicht in Frage.

Michael Stipe rannte manchmal wie ein Berserker über die Bühne und stand dann im nächsten Augenblick wieder ungelenk und wie abwesend da, eben noch lustiger Springinsfeld, dann schon wieder stolz und einsam, ein Fragezeichen in der Landschaft und zugleich ein wahrer Schmerzensmann. Stipe spielt den Star als Antistar oder umgekehrt oder vielleicht auch ganz anders: Jedenfalls fällt er mit seinen vielfältigen Inszenierungen so sehr aus allen Rastern, daß es schwerfallen dürfte, ihn auf verkaufsfördernde Authentizitäten oder andere in der Kulturindustrie fest umrissene Rollen festzulegen. Hier spricht nicht jemand für andere. Vor dem Nirvana-Schicksal, plötzlich und ungewollt als Vertreter einer neuen Generation dazustehen, hat sich REM in Sicherheit gebracht. Wie sehr das wieder Kosten auf seiten der Glaubwürdigkeit oder anderswo hat, sollen andere diskutieren.

Eine halbe Stunde war es ein mäßiges, eine weitere Stunde lang dann ein gutes, wenn auch überdimensioniertes Konzert. Mal erging sich die Gruppe in schön-fruchtlosem Gedaddel, dann zogen sie an und legten mal eben einen Hit aufs Parkett. Bei „Losing My Religion hörte dann selbst das Teenager-Pärchen kurz auf zu knutschen.

Dirk Knipphals

Hochschule für Musik: „Anatevka“

„Wenn ich einmal reich wär' . . .“ Tevje träumt sich ein eleganteres Ambiente als das vorhandene: Der arme Milchmann ist Vater dreier Töchter, die es zu verheiraten gilt. Gemeinsam mit seiner Frau Golde versucht er seine Aufgabe zu lösen, immer mit Gott feilschend: „Ich weiß, wir sind dein auserwähltes Volk, aber könntest du dir nicht mal ein anderes auswählen?“

Das junge Forum Musiktheater führte am Samstag das Musical Anatevka an der Hochschule für Musik in einer Diplominszenierung auf. Tatsächlich geht es in der Geschichte um alles andere als um Reichtum. Es geht vielmehr um ein Gleichnis stellvertretend für die jüdische Lebenswelt. Dies hervorzuheben ist das Verdienst der Inszenierung. Die lebhafte Erzählung, die sich um die Zukunftssicherung der Kinder herumspannt, greift in die Fragen der jüdischen Tradition und ihrer Gesetze, „die nicht bestehen, um Gott zu begreifen, sondern um ihn zu ertragen“.

Unter der Leitung von Andreas Mildner bietet das kleine Orchester eine prägnante Begleitung, die auf die Klezmer-Tradition setzt. Humorvoll, lebenslustig, immer den Tränen nahe. Ein Reichtum jüdischer Kultur. Elsa Freese

Weitere Aufführungen: 11.–15. 7., 20 Uhr, 16. 7., 16 Uhr

Kampnagel: Gabriella Bußackers „Spieler“

Es ist inzwischen gute Tradition, daß die Hamburger Regisseurin Gabriella Bußacker die Entwicklung ihrer Stücke mit Zwischenaufführungen öffentlich macht. Diese pro Stück meist mehrfachen Work-in-Progress-Abende dokumentieren die Konzentration des Materials über mehrere Monate und bieten doch jeweils in sich geschlossene Aufführungen. Nach den mehrfolgigen Glücksbagatellen sind nun die Undercover-Philosophen an der Reihe. Das sind Figuren, deren thematischer Ring mit dem Kampfplatz der Glücksbagatellen durchaus identisch ist.

Zwischen angedeuteten romantischen Accessoires und Klangwelten bewegen sich nonchalant Glückssucher, die ihre Lebensphilosophie im Zirkelkreis ihrer Tätigkeiten sortieren. In diesem Fall Spieler, also Menschen, die sich stets mit dem Glück im Zweikampf messen müssen. Edith Adam im goldenen Pailettenkleid zwischen naiver Eleganz und nuttigen Aufgaben und Matthias Breitenbach als Spielsüchtiger und Gelegenheitszuhälter fordern an diesem Abend auf der Probebühne von Kampnagel eine Stunde lang das Glück heraus. Dazu werden einigermaßen gefährliche Vertrauensbeweise in Wilhelm-Tell-Manier vor der Dartscheibe kombiniert mit der stets lächelnden Erzählung von Textfragmenten.

„Einzelne Sätze sind oft schöner als ganze Romane“, haucht Adam ins Mikrophon und umschreibt damit recht treffend das kaleidoskopische Arbeitsprinzip von Gabriella Bußacker. Andeutungen und Gesten, die die vollste Präsenz und Konzentration der Schauspieler verlangen, sind in dem Zusammenhang dieser romantischen Outsider-Biographien von größerer Bedeutung als ein dramaturgisch einwandfreies Textbuch. Das sich sehr langsam entrollende Tempo und die leere Bühne geben das Ihrige hinzu, daß man ganz auf die Frage geworfen wird, was das hintersinnige Lächeln auf dem Gesicht der Akteure einem alles erzählt. Ein Fragment, das neugierig auf die vollendete Produktion machte, die für nächstes Jahr erwartet wird. Vorher wird es noch eine Werkstattaufführung zu einem weiteren Teil der Undercover-Philosophen geben. Till Briegleb