Der Todesmut zum Minirock

■ Eine Fotoausstellung zeigt „Algerien zwischen Demokratie und Gottesstaat“

„Diesmal haben Sie aber schnell reagiert!“ wurde der Schweizer Fotograf begrüßt, als er im Juni 1992 nur ein paar Stunden nach der Ermordung von Präsident Mohammed Boudiaf wieder einmal in Algier eintrifft. Dabei wollte Michael von Graffenried an einem Touareg-Fest teilnehmen und wurde von der dramatischen Verschärfung der politischen Lage im Flugzeug überrascht. Im richtigen Moment anwesend zu sein, ist für einen Fotojournalisten die eine Hälfte des Erfolgs, das Festhalten des Augenblicks, in dem sich Situationen verdichten, die andere.

Dreiundsechzig großformatige Schwarz-Weiß-Fotografien des in Paris lebenden Berners sind zur Zeit im Völkerkundemuseum zu sehen. Sichtbar wird ein Land im dramatischen Umbruch. Zwischen neuesten französischen Autos sammeln sich Anhänger der verbotenen „Islamischen Heilsfront“ unter den kritischen Blicken schwerbewaffneter Milizen zu Massengebeten auf der Straße, während in der Disco in Miniröcken getanzt wird. Nicht einmal von Graffenrieds 160-Grad-Widelux-Panoramakamera reicht aus, um das zum Zerreißen gespannte Spektrum zwischen französisch-europäischer und traditionell islamischer Lebensart voll zu umfassen.

Satellitenschüsseln gegenüber den Moscheelautsprechern sind das materielle Zeichen einer Auseinandersetzung zwischen französischen Soft-Pornos und Koranzitaten, die längst nicht mehr nur ein Kulturkampf ist. Plakate fordern ausdrücklich zum totalen Terror auf. In den letzten 15 Monaten wurden allein 36 Journalisten gezielt ermordet, in den letzten drei Jahren gab es insgesamt mindestens dreißigtausend Tote. Dabei wetteifern die Sicherheitskräfte der diktatorischen Notstandsregierung und die Fundamentalisten in Grausamkeit.

Gegenüber solchen Fakten haben es Bilder schwer. Meist werden sie erst durch die Begleittexte verstehbar und verschieben den kalt-neutralen Blick zum gerichteten Kommentar. „Ein Staat, der es zuläßt, daß seine Elite im Untergrund leben muß, ist kein Staat!“ verkündet ein Transparent. Aber selbst bei dieser Parole ist dem Fremden nicht klar, welche Seite gemeint ist: die westlich orientierten intellektuellen Frauen, die sich aus Angst vor den Fundamentalisten verstecken müssen, oder die bewaffneten Prediger des utopischen Gottesstaates im Guerillakampf.

75 Prozent der Algerier sind unter dreißig und die Hälfte von ihnen ist arbeitslos. Die Wirtschaft ist ruiniert, die Hälfte der Bevölkerung besteht aus Analphabeten. Dokumentation und Pressespiegel geben zu den Fotos weitere Informationen und machen doch ratlos. Was bedeutet es, in der neuesten Diaserie von Graffenrieds vom März dieses Jahres zu sehen, daß die Berber in den Dörfern des Südens inzwischen bewaffnet wurden? Droht der völlige Bürgerkrieg oder entstehen dezentrale autonome Einheiten? Und sind die unter Kleidungsbergen verborgenen weiblichen Wesen jeden Alters wirklich so unfrei, wie unser Blick immer reflexartig unterstellt?

Überhaupt sehen wir Bilder eines Landes ohne fotografische Tradition. Fotos machen eigentlich nur Kolonialisten, Polizei und Spione. Die kurze Liberalisierung von 1991 ist längst vorbei. Und so sind manche Bilder Michael von Graffenrieds mit zahlreichen Verhaftungen erkauft. Hajo Schiff

Museum für Völkerkunde, bis 23. Juli; Begleitbuch im Benteli Verlag, Bern, 32 Mark