Unsere gemütlichen Ersatzväter

Sie warben mit Äpfeln, spornten als Handelsvertreter weibliche Phantasien an, manche lebten gar mit ihren Schwestern zusammen: die guten, netten, rührigen Onkel. Dieser Typ des unväterlichen Mannes bestimmte maßgeblich die Geschicke der Bundesrepublik – sei es Ludwig Erhard oder Helmut Kohl. Eine Würdigung  ■ von Michael Rutschky

Der langsame Abschied von Helmut Kohl als Bundeskanzler kann in Erinnerung rufen, welche starke Rolle in der Geschichte der Bundesrepublik, der öffentlichen wie der privaten, stets die Onkel gespielt haben. Denn das war und ist der große und dicke Mann mit seiner täppischen Leutseligkeit doch unverkennbar – ein Onkel. Niemand käme auf die Idee, seine Autorität eine väterliche zu nennen.

Wegen seiner hemmungslosen Eßlust erinnerte er mich immer an Onkel Georg. Ein Mann, der meine Kindheit überragte. Ein ebenso unmäßig dicker Mann, obwohl in der Nachkriegszeit doch Mangel, sogar Hunger herrschte.

Onkel Georg war der bedeutendste Arbeitgeber unserer kleinen Stadt, und weil er neben seiner Fabrik Landwirtschaft betrieb, war immer genug zu essen da – was auch mir und meinen Eltern, Zugereisten, zugute kam. Noch heute kann mich eine gewisse Sorte nordhessischer Wurst, genannt „Dürre Runde“, nach dem bekannten Vorbild von Marcel Prousts Madeleinegebäckstück, mit Heimweh erfüllen. Onkel Georg verdankte mein Vater, daß er auch in der schlechtesten Zeit nur seiner Arbeit nachgehen mußte, nicht etwa „hamstern“ fahren, bei den Bauern irgendwelche Vermögenswerte eintauschen, die der Städter noch hat mitnehmen können auf seiner Flucht, Möbel, Teppiche, Geschirr gegen Eßwaren.

So stand für das Kind Onkel Georg für Würste und Schinken und Braten, aber auch für Kirschen und Äpfel und Pflaumen, denn umfangreiche Obstgärten befanden sich in Besitz des Onkel. In diesen Gärten durfte sich das Kind – Süßigkeiten gab's ja noch keine – ungescheut bedienen, während die Kumpels aufs Klauen angewiesen blieben.

Als großzügigem Spender der guten Gaben kamen dem dicken Onkel Georg also durchaus weibliche Attribute zu – was mit der weitergehenden Unklarheit seiner Geschlechtsidentität gut zusammenpaßt. Zwar lebten – wie das Kind es von Onkel Henner und Tante Hanna gewöhnt war – Onkel Georg und Tante Emma in einem Haushalt zusammen. Doch mit einem entscheidenden Unterschied, von dem ich gar nicht weiß, wann genau er dem Kind aufging: Während Onkel Henner mit Tante Hanna verheiratet war (und sie miteinander Kinder hatten), waren Onkel Georg und Tante Emma Bruder und Schwester. Bei den Kindern, die sich zuweilen in ihrem Haushalt herumtrieben, handelte es sich also um Neffen und Nichten.

Es waren keine Schicksalsschläge oder Kriegseinwirkungen, die Onkel Georg zum Witwer gemacht und zu seiner Schwester zurückgebracht hätten. Er war nie verheiratet, sowenig wie sie. Zwar kursierten in der kleinen Stadt wilde Gerüchte, sie seien ein inzestuöses Paar, aber das halte ich für Unsinn.

Wie auch immer sie das machten, Onkel Georg und Tante Emma hatten kein signifikantes Geschlechtsleben (das, was Mutter und Vater betrifft, das Kind ja so heftig in seinen Phantasien bewegte). Was Onkel Georg anbetrifft, ist für mich der Begriff des Onkels vollständig asexuell. Das galt auch für die Onkels des öffentlichen Lebens, mit denen Großvater Adenauer seine Politik machte. Thomas Dehler oder Franz Blücher oder der berüchtigte Hans Globke: alles Onkel, keine Väter, irgendwie unmännlich.

Daß Bundeskanzler Erhard Onkel war, ebenso wie sein Nachfolger Kurt-Georg Kiesinger, versteht sich von selbst. Erst mit Willy Brandt kehrte für mein Gefühl ein Männlichkeitskonzept in die Politik zurück, wie auch seine wirklichen oder imaginären, jedenfalls öffentlich erzählten Weibergeschichten belegen.

Um so ungehemmter erweiterten in der frühen Bundesrepublik die Onkels ihren Herrschaftsbereich, als ja tatsächlich die Väter massenhaft fehlten: Soldaten, im Krieg getötet. Der meine zwar nicht, aber seine Arbeit hielt ihn auf Reisen. So konnte Onkel Georg, ohnedies, wie gesagt, Spender der guten Würste ebenso wie Äpfel, Einfluß auf das Kind nehmen, das in der Regel Nichte oder Neffe war.

In diesen Zusammenhang gehört auch ein veritables Rechtsinstitut der frühen Bundesrepublik, die sogenannte Onkelehe. Frau Stiehl und Herr Müller im Nebenhaus lebten in einer solchen. Die drei Kinder Frau Stiehls hießen alle ebenso und hatten nicht Herrn Müller, einen stillen Mann mit schön pomadisierten Haaren, zum Vater. Sie nannten ihn „Onkel“. In Onkelehe, ließ ich mir von Mutter erklären, lebten Herr Müller und Frau Stiehl, insofern sie unverheiratet blieben, um weiterhin in den Genuß von Frau Stiehls Kriegerwitwenrente zu kommen.

Das scheint zwar das Asexuelle als Attribut des Onkels auszustreichen – man muß aber bedenken, daß für die Traumlogik, der das Kind folgt, die (rätselhafte) Sexualität der Eltern mit ihrem Verheiratetsein engstens verbunden ist. Wer in Onkelehe, also unverheiratet zusammen ist, ist auch ohne Geschlechtsleben. So waren der kindlichen Traumlogik zufolge auch Onkel Georg und seine Schwester Emma eigentlich in Onkelehe verbunden.

Manchmal besuchte auch ein gewisser Onkel Egon – ohne Ehefrau – die Eltern, ein witziger und eleganter Herr, der auf einen ganz anderen, geradezu entgegengesetzten Aspekt der Onkelherrschaft in der Bundesrepublik aufmerksam macht.

Über ihn kolportierte mein Vater mit einer gewissen lüsternen Anerkennung, daß er als Junggeselle alle Freiheitsmöglichkeiten des Junggesellenlebens ausnütze, vor allem also die erotischen. Onkel Egon verkörperte einen Männertypus, auf den eine ganze moralisierende Geschlechtermythologie zugeschnitten war: den Junggesellen als erotischen Freibeuter, der sich dem sittigenden Einfluß von Frau, Ehe und Vaterschaft entzieht, um ausschließlich seiner Karriere und seinem Vergnügen zu leben. Ist für die zunächst kindliche, später juvenile Imagination in der Bundesrepublik der Onkel also einerseits komplett asexuell, so sexuell ist andererseits der Abenteurer, der die „Bindung“ scheut.

Im politischen Pantheon der Bundesrepublik fehlt dieser Typus Onkel, versteht sich. Man findet ihn im Kino, in der Gestalt von Curd Jürgens beispielsweise, unzweifelhaft mit Sex-Appeal – aber dem des „normannischen Kleiderschranks“. Gleichwohl tritt seine Onkelhaftigkeit sofort zutage, wenn man ihn etwa mit Cary Grant vergleicht. 1957, als Curd Jürgens in Et Dieu créa la femme neben Brigitte Bardot auftrat, kam er, 45 Jahre alt, für sie gar nicht mehr so recht in Frage. Im selben Jahr drehte Cary Grant, 53 Jahre alt, mit Deborah Kerr An Affair To Remember: Überhaupt keine Frage, daß er zum Verlieben war und blieb.

Seltsamerweise findet sich Onkel Egons junggesellenhafter Unzuverlässigkeit – die den Frauenüberschuß, den die Bundesrepublik der frühen Jahre aufwies, auszunutzen wußte – auch an einem anderen Onkel aus meiner persönlichen Vorgeschichte: Jenem Onkel Henner, der mit der schönen, glitzernd hysterischen Tante Hanna verheiratet war. Dieselbe sagte ihm, der – wie mein Vater – häufig in Geschäften unterwegs war, einen wilden Frauenverzehr nach, überhäufte ihn deshalb regelmäßig mit schweren Vorwürfen, beklagte sich wegen seiner Untreue bei Freundinnen und Verwandten. Ich habe lange gebraucht, um diese Einschätzung Onkel Henners anzuzweifeln. Tante Hannas Hysterie wird sie bewirkt haben. Sie hätte vermutlich auch meinen anhänglichen Vater in einen Sexualfraß verwandelt.

Onkel Henner war Kleinunternehmer. Sein Geschäft verdankte sich der Nachkriegs- als Gründerzeit. Man kann nicht behaupten, daß seitdem am bundesrepublikanischen Geschäftsmann fast der Ruch erotischer Unzuverlässigkeit, womöglich sexueller Ausschweifung haftet – es gab aber tatsächlich einen Typus, dem die öffentliche Imagination in dieser Hinsicht alles zutraute: dem Handelsvertreter.

Ich habe da einen weiteren dieser Onkels vor Augen, im schweren Wagen war er regelmäßig unterwegs, und wenn die Feste, die er zu Hause feierte, das Vorbild für sein Leben unterwegs abgaben... Meine Mutter schüttelte nur pikiert den Kopf, mein Vater schnalzte anzüglich mit den Lippen.

So finden wir den erotisch umtriebigen, unverheirateten Onkel, der im politischen Pantheon der Bundesrepublik fehlt, also tatsächlich im Geschäftsleben (in dem auch der Prototyp, Onkel Egon, tätig war). Daß ausgerechnet der Handelsvertreter durch sein Liebesleben glänzte, drängt eine allegorische Deutung auf: Über ihn wurde der Konsum zur zentralen Lebensform der bundesrepublikanischen Familie. Wer sich darauf versteht, die Liebesblicke der Waren professionell zu inszenieren, für dessen Person müssen ebenso Liebesblicke abfallen.

Wenn wir dergestalt für die Bundesrepublik keine Männer-, sondern eine Onkelherrschaft diagnostizieren – die in Helmut Kohls ewiger Kanzlerschaft ihren Höhepunkt gefunden hat –, dann möchte man am Ende doch nach den Gründen fragen.

Der einfachste ist schon genannt: Am Anfang der Bundesrepublik fehlten die Männer als Liebste, Ehemänner, Väter massenhaft, sie waren tote Soldaten. In ihrer Abwesenheit richteten sich die Onkels ein, als asexuelle Spender der Lebensgaben – manche waren ja tatsächlich die Brüder der kriegsverwitweten Mütter, die ihrer Schwester beistanden – oder als abenteuernde Kleinunternehmer, Handelsvertreter, die nichts anbrennen ließen.

Sodann aber war mit den Soldaten auch ein ganzes traditionsgesättigtes Konzept untergegangen, eben das Konzept des soldatischen Mannes, das noch meinen eigenen Vater als 21jährigen in den Ersten Weltkrieg getrieben hatte. Was mich nicht umbringt, macht mich nur noch härter, lautete eine der Maximen. Nun, sie waren umgebracht.

Und die Sieger schauten eher aus wie Cary Grant als wie Willy Birgel (vergessener Filmdarsteller von Rollen wie „Rittmeister Wronski“). Die Onkel, will ich sagen, beherrschten die ersten Jahrzehnte der Bundesrepublik, weil auch konzeptuell Männer in einem unproblematischen Sinn als Liebste, Ehemänner, Väter fehlten.

Mit Hitlers Krieg hatte sich der Mann als soldatischer Mann selbst abgeschafft. Und so sind eigentlich die Onkels für den Ersatz, den sie zwischenzeitlich schufen, zu loben.