Unbewältigte Gegenwart: 30 Jahre Notstandsrecht

Auch in Bremen ist der Notstand bis ins Detail vorbereitet / Aber wer weiß schon, daß Loseblattsammlung „Notstandrecht der Bundesrepublik Deutschland“ mehr als einen Meter dick ist?  ■ Von Reinhard Bockhofer

„Souverän ist, wer über den Ausnahmezustand entscheidet“, schrieb Carl Schmitt kurz vor Ende der Weimarer Republik (1928). Die deutsche Tradition obrigkeitsstaatlicher Reglementierung im Notstand hatte in Schmitt, einem der geistigen Wegbereiter des Dritten Reiches, einen überzeugten Vertreter. Anders urteilte der Parlamentarische Rat: Er weigerte sich, Notstandsbestimmungen ins Grundgesetz aufzunehmen! Ein ursprünglich vorgesehener Notstandsartikel wurde auf Antrag der Abgeordneten Zinn (SPD), Dr. Dehler (FDP) und Dr. von Mangold (CDU) am 10. Februar 1949 gestrichen.

Die Verfasser des Grundgesetzes wollten nicht noch einmal grenzenlosen Ermächtigungen der Exekutive zustimmen. Zu häufig hatten Ausnahmegesetze in der Geschichte die Errichtung von Diktaturen beschleunigt. Deutlich stand den Vertretern im Parlamentarischen Rat das Notverordnungsrecht des Artikels 48 Absatz 2 der Weimarer Verfassung vor Augen. Mit der Notverordnung zum Schutze von Volk und Staat nach dem Reichstagsbrand hatte der Reichspräsident zentrale Grundrechte aufgehoben, staatlicher Willkür Tür und Tor geöffnet und damit letztlich die spätere Einrichtung der Konzentrationslager legalisiert. Der Schrecken des Naziterrors saß in den Knochen, damals.

Erst mit dem Deutschlandvertrag vom 26. Mai 1952/54, welcher der Bundesrepublik die Souveränität mit gewissen Einschränkungen zurückgab, setzte die Diskussion um das Notstandsrecht neu ein. Die Westalliierten beanspruchten in diesem Vertrag die Verfügung über den Notstand, solange die Bundesrepublik nicht selber einschlägige Regelungen getroffen hätte. Die Regierung Adenauer nahm den Impuls dankbar auf. Der CDU-Abgeordnete Ernst Benda trommelte, die Westalliierten würden nur mit einer starken Notstandsverfassung einverstanden sein. Dagegen vertrat der regierungsnahe Staatsrechtslehrer Prof. Dr. Wilhelm Grewe (siehe: Bulletin vom 10. November 1954, Seite 1917 ff.) die Ansicht, mit der Wehrgesetzgebung seien die alliierten Vorbehaltsrechte erloschen, die Bundesrepublik sei bereits souverän.

Die aus Fallex-Manövern (Planspiele für den Notstandsfall) abgeleiteten „Schubladengesetze“, an untere Verwaltungsbehörden verteilt, sorgten bundesweit für Gerüchte. Bundesinnenminister Lücke gab preis, diejenigen, die die Gesetze gesehen hätten, seien „bleich geworden“. Die Verordnungen zeigten, kommentierte Jürgen Seifert, einer der hellsichtigsten Kritiker in jener Zeit, „wie Beamte in den Ministerien ganz bewußt eine Verfassungsänderung gewissermaßen vorentschieden haben durch das, was sie außerhalb der Verfassung taten.“

Der Mehrheit der Bonner Abgeordneten wurden die Schubladentexte vorenthalten. Die Gegner einer gesetzlichen Regelung des Notstands argwöhnten aufgrund solcher Geheimniskrämerei und Vertuschung, der Staatsnotstand sei letztlich eine Aufforderung zum Staatsstreich. Zwei Auffassungen vom Staat standen einander unversöhnlich gegenüber: Die einen wollten primär den Staat schützen, die Rechte des Bürgers sollten zweitrangig sein; die anderen den Bürger, dessen Rechte niemals soweit eingeschränkt werden dürften, da ihm Unrecht geschehe.

Mit verwirrenden Gesetzesvarianten wurde die Debatte über die Notstandsverfassung vorangetrieben, bis schließlich die politische Opposition im Deutschen Bundestag weichgeklopft war, ihren Einspruch aufgab und Nebelkerzen warf. Die Erfahrungen in Vietnam zeigten, so führte der spätere SPD-Bundeskanzler Helmut Schmidt die Öffentlichkeit in die Irre, was in Deutschland geschehen könne, wenn man die Regelungen des Notstandes den Alliierten überließe. Der Deutschlandvertrag hätte uns in keiner Weise dazu verpflichtet, eine Verfassung anzunehmen, die das deutsche Volk nicht will. Das Volk ist der einzige Souverän, die Alliierten hatten die Souveränität ausdrücklich zugestanden.

Die Anti-Notstands-Kampagne, eine breite von den Gewerkschaften bis zur studentischen außerparlamentarischen Opposition (APO) getragene Protestbewegung, konnte die Aushöhlung der Verfassung nicht aufhalten. Der Protest war ähnlich vergeblich wie der Kampf gegen die Remilitarisierung in den 50er Jahren. Die rechtsstaatliche und demokratische Substanz der liberalen Verfassung von 1949 bröckelte (und bröckelt weiter). 1968 beschloß die Große Koalition aus CDU/CSU und SPD die schon damals weithin unbegriffenen und in der Folge rasch in Vergessenheit geratenen Gesetze für den inneren und äußeren Notstand. Das Grundgesetz wurde mit der bis dahin umfangreichsten Ergänzung erheblich umgekrempelt. Eine verhängnisvolle Vorsorge, wie Eugen Kogon damals urteilte.

Den Kriegsfall, den äußeren Notstand, stellt entweder der Bundestag mit einer 2/3-Mehrheit oder aber ein Organ einer internationalen Organisation, der die Bundesrepublik angehört (etwa die NATO), im Zusammenwirken mit der Bundesregierung fest. Würde ein außenpolitischer Konflikt angeheizt, könnte theoretisch die Legitimation zur inneren Dikatur begründet werden. Die Rechte der Bundesländer treten sodann zugunsten eines starken Zentralstaates zurück. Bundesrat und Bundestag bilden mit insgesamt 48 Vertretern ein Notparlament, den sog. Gemeinsamen Ausschuß. Grundrechte werden eingeschränkt. Statt freier Berufswahl herrscht Dienstverpflichtung. Zum Kriegsdienst ohne Waffe kann jedermann gezwungen werden. Das Arbeitssicherstellungsgesetz z.B. regelt die Verpflichtung von Wehrpflichtigen zu zivilen Dienstleistungen zum Zwecke der Verteidigung, einschließlich des Schutzes der Zivilbevölkerung.

Bereits im Spannungsfall, die Phase vor einem möglichen Krieg, gilt für Kriegsdienstverweigerer sofort die restriktive Auslegung ihres Grundrechts mit der vermeintlich rationalen, prozedural demütigenden Gewissensüberprüfung. Die religiöse Argumentation wird geduldet, die politische Begründung einer Gewissensentscheidung nicht. Bei Abhörmaßnahmen gegen Bürger durch Verfassungsschutz, Bundesnachrichtendienst u.a. entfällt die Benachrichtigungspflicht, Rechtsbehelfe sind ausgeschlossen. Meinungs- und Pressefreiheit, Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit bleiben geschützt.

Aufruhr, Aufstände, Bürgerkrieg, schwere wirtschaftliche und gesellschaftliche Krisen, aber auch technische Katastrophen (etwa ein GAU im Atomkraftwerk Esenshamm) und Naturkatastrophen können zur Ausrufung des inneren Notstandes führen. Grundrechte bleiben garantiert, u.a. auch Koalitionsfreiheit und Streikrecht. Kriterien indes, unter welchen Voraussetzung der innere Notstand eingetreten ist, fehlen. Die Bundesregierung kann „zur Abwehr einer drohenden Gefahr für den Bestand oder die freiheitliche demokratische Grundordnung des Bundes oder eines Landes ...“ die gesamte Polizei, den Bundesgrenzschutz und notfalls sogar die Bundeswehr gegen „militärisch bewaffnete“ politische Gegner im Innern einsetzen.

In den vergangenen drei Jahrzehnten sind die Verfassungsartikel von 1968 mit gründlicher Regelungswut durch „einfache“ Notstandsgesetze und zahllose Verordnungen für Bund und 16 Bundesländer ergänzt und für den Ernstfall konkretisiert worden. Die meterstarke Loseblattsammlung „Notstandrecht der Bundesrepublik Deutschland“ hat die Öffentlichkeit in den Jahren 1968 bis 1998 kaum je erreicht.

Der im März verstorbene Pädagoge Rudolf Prahm gehörte zu den wenigen Menschen in Bremen, die leidenschaftlich und phantasievoll die „Vorausverrechtlichung“ des Krieges, des Notstandsfalles aufdeckten und die beflissene Regelungswut der Verwaltung vorführten. Den Geist wacher, demokratischer Aufklärung, des freundlichen Einspruchs, des kleinen heiteren Widerstandes hat der GEW-Kollege Prahm bis zum letzten Atemzug beispielgebend vorgelebt. Er unternahm Behördenbesuche, fragte unerschrocken nach und berichtete unermüdlich einer erstaunten kleinen Öffentlichkeit von „Verschlußsachenbeauftragten“, „Alarmplankalendern“, „Telefonausschlulisten“ für den Tag X. Am Tage der Einweihung des Kreishauses in Wildeshausen wurde ihm eine „Erkennungsbrille für Beamte“ gezeigt. Nicht bloß Lebensmittelkarten lägen schon bereit, so erzählte er, nein, die Bürokratie denke weit voraus. Zur Überprüfung möglicherweise gefälschter Lebensmittelkarten setzten die Beamten „Erkennungsbrillen“ auf.

Wer an den 30. Jahrestag der Verabschiedung der Notstandsverfassung, den 24. Juni 1968 erinnert, wird mit Erleicherung feststellen, da die damals geäußerten Befürchtungen allesamt gegenstandslos geblieben sind. Hieraus den Schluß zu ziehen, die Gesetzesmaterie nicht zur Kenntnis nehmen und an die historisch ahnungslos gewordene junge Generation weitervermitteln zu müssen, wäre ein Irrtum: Trifft der Notstandsfall eine uninformierte, überraschte, also im Kern geschwächte Gesellschaft, schlägt die „Stunde der Exekutive“. Aus dem Notstandsrecht ergeben sich leicht Sondervollmachten für den Staat, die sich gegen den Bürger richten.

Der Autor ist Fachleiter am „Wissenschaftlichen Institut für Schulpraxis“ (WIS) und engagiert sich privat in der „Vereinigung zur Förderung des Petitionsrechtes in der Demokratie“.