Kulinarisches und Kiezkultur

In Mitte brodelt es nicht an jeder Ecke, und Kreuzberg ist nicht verschnarcht. Berliner Szenebezirke, (gastronomisch) unter die Lupe genommen  ■ Von Eberhard Schäfer

Kreuzberg ist out, Mitte in. Warum? Die Ansichten darüber, was städtisch, urban, metropolitan heißt, haben anscheinend auch ihre Moden. Kreuzberg hängt der Ruf des verkehrsberuhigten Biotops an, und den mag der Zeitgeist nicht goutieren. Man liebt offenbar das befreiende Gefühl, sich nach dem Gedränge zwischen Bauzäunen, Pfützen und Straßenbahnen in die Hackeschen Höfe und die stickige Luft der Lokale dieser Umgebung zu quetschen. Aber auch in diesem superhippen Szenebezirk gibt's noch recht ruhige Ecken.

Schlendert man in den Gewerbehof des Gründerinnenzentrums „Weiberwirtschaft“ in der Anklamer Straße, wähnt man sich urplötzlich im Kreuzberg von vor zehn Jahren – politisch korrekt und behutsam stadterneuert. Altbauten, selbstverständlich unter besonderer Berücksichtigung ökologischer Belange saniert, flankieren die begrünten Höfe. An deren Ende findet man das Restaurant Blue Goût – gleich noch ein Déjà vu: Bis vor einigen Jahren war es nämlich im lägändärrenn SO36 ansässig. Am neuen Ort betreiben Simone Fischer und Susanne Jahraus ein Restaurant, das gewissermaßen eine Melange aus Kreuzberger und Mittigem Großstadtverständnis darstellen könnte. Rohe Backsteinwände, Betonfußboden und (durchaus mildes) Hightech-Licht stehen für metropolitane Härte. In der können wir es uns aber recht gut gehen lassen angesichts des langen Tresens aus edlem Holz (und den schönen jungen Herren dahinter) und der in elegantem Weiß eingedeckten Tische.

Dieses Ambiente paßt zum Publikum und zur neuen internationalen Küche, die hier geboten wird – Mediterranes geht hier mit fernöstlichen Einflüssen genausogut wie mit deutsch-regionalen, und auch Vegetarier werden satt (erste Reminiszenz an das Biotop). Nach einem vielversprechenden Amuse-gueule geht es weiter mit Lachstartar auf Crostini mit unglaublich scharfem grünem Meerrettich und Salat aus Linsen-, Erbsen- und anderen Sprossen, eine gut getroffene Mischung aus Feinheit, Vollwert und Fitneß (der zweite Verweis auf biologisch korrektere Zeiten).

Die sehr freundlichen und aufmerksamen Damen brachten anschließend gefüllten Kaninchenrücken. (Alles Fleisch stammt hier aus tiergerechter Haltung; nochmals: Wir haben in Kreuzberg gelernt!) Für Vegetarier gab's richtig fleischige Saltimbocca aus Seitan (komisches Zeug, Weizeneiweiß, aber irgendwie klug behandelt); drin war eine kräftige Mischung aus getrockneten Tomaten, Mozzarella und Salbei, dazu gar köstliches Gemüserisotto. Vorspeisen kosten um 20 Mark, Hauptgerichte 22 bis 35, das Drei-Gänge-Menü 52 Mark. Es gibt eine Mittagskarte, eine kleine Weinkarte, ganz ordentliche offene Weine kosten um 8 Mark für 0,2 Liter; bei warmem Wetter sind die zimmerwarmen Rotweine nicht zu empfehlen. Apropos warmes Wetter: Man kann hinter dem Blue Goût auch angenehm ruhig draußen sitzen.

Einen Garten kann das Weinstein nicht bieten, nur einige Tische auf dem Bürgersteig unter der Markise. Dafür dürfte der Wein jedoch stets richtig temperiert sein. Roy Metzdorf und seine ebenso kompetente wie quirlige Crew bemühen sich um Weinkultur wie in Berlin kaum sonst jemand. Man schreckt nicht davor zurück, den Geschmack der Massen schlicht zu ignorieren.

Chardonnay, Soave, Pinot Grigio wird man hier vergebens suchen, statt dessen beherrschen ausgewählte Rieslinggewächse deutscher Herkunft die Kollektion weißer Weine. Insgesamt etwa 30 offene und 200 Flaschenweine (neben den Rieslingen hauptsächlich spanische und französische Rotweine) umfaßt das Angebot. Seltsam nur: Hinter nicht wenigen der in der Karte aufgeführten guten spanischen und französischen Weine prangt neuerdings ein eingestempeltes „ausgetrunken“. Alle Flaschenweine sind auch im Außerhausverkauf erhältlich; der Aufschlag (Korkgeld) fürs Trinken im Lokal beträgt ganze 15 Mark je Flasche (offene Weine ab 4,50 Mark pro Glas; Flaschenweine von 21 bis 340 Mark). Bitte, kauft nach, Metzdorf & Co.! Es gibt hier auch eine kleine, eher rustikale Küche. Man kann von der täglich wechselnden Karte Gerichte wie marinierte Lammkoteletts mit Kartoffeln und grünen Bohnen oder Putensteak mit Staudensellerie und Steinpilzen verzehren (Hauptgerichte knapp 20 Mark), außerdem Kleinigkeiten wie tschechische Topinky, in der Pfanne gebratene Graubrotscheiben mit viel Knoblauch, für 4,50 Mark. Aus der kalten Küche kommen Wurst-, Schinken- und Käseteller, alles feinste Qualität, zu haben für 18 bis 20 Mark.

Ist dies eine städtische Kneipe, ein ländliches Wirtshaus? Möbel aus dunklem Holz, der Boden aus roten Terrakottafliesen, die Wände hell gestrichen – vielleicht ist gerade das wahrhaft urbane Atmosphäre. Den Lärm der Großstadt vergißt man hier und ist doch mitten in sie eingetaucht.

Mit ähnlichem Konzept, aber unter toskanischer Oberhoheit bemüht sich die Enoteca-Trattoria La tana dei briganti um die Hebung der hauptstädtischen Weinkultur. Der lange Name ist italienisch für Fortgeschrittene und soll Räuberversteck heißen. Womit wir zurück in Kreuzberg wären, aber im Kreuzberg der späten 90er Jahre: In der ersten Woche nach Eröffnung des Lokals wurde zweimal eingebrochen.

Hier, in der wahrlich nicht verkehrsberuhigten Oranienstraße, kommt die Großstadt fast ins Lokal herein – und insofern sind wir nahe dran am Mitte-Wahn, aber hier geht's härter, authentischer zu. Das Dröhnen des 129ers beeindruckt jetzt im Sommer bei geöffneter Tür ebenso wie die dezent vorbeicruisenden tiefgelegten S-Klasse-Limousinen der türkischen Jugend. Drinnen beruhigen Letizia und Oliver Zurbuch das Publikum. Mittags kommt überwiegend das besserverdienende aus den Kreativbüros der Nachbarschaft, abends setzt sich eine fröhliche Mischung aus Toskanafraktion, Kiezbevölkerung und angereister Stammkundschaft an die wenigen großen dicken Holztische.

Hausgemachte Pastagerichte – mittags 13, abends 15 bis 17 Mark –, authentisch maremmanisch vor allem dann, wenn Letizia kocht, und jeweils ein Fisch- und Fleischgericht sind im täglich wechselnden Angebot – Beispiel: Fasanenbrustfilet in Feigensauce für 27 Mark.

Die Weine stammen sämtlich aus Italien, vorwiegend aus der weinmäßig aufstrebenden toskanischen Maremma. Die Inhaber kaufen sie selbst bei den Erzeugern ein, was günstige Preise ermöglicht. Wie im Weinstein gibt es auch hier Außerhausverkauf, und pro Flasche werden 15 Mark Korkgeld für den Verzehr im Lokal erhoben. Alle Weine werden auch glasweise angeboten für Preise von 5 bis zu 25 Mark für den „Supertuscan“ Sassicaia.

Adressen und Öffnungszeiten der besprochenen Lokale:

Blue Goût, Mitte, Anklamer Str. 38, Telefon 448 58 40, geöffnet jeden Tag von 19 bis 1 Uhr, Montag bis Freitag auch 12 bis 15 Uhr

Weinstein, Prenzlauer Berg, Lychener Str. 33, Telefon 441 18 42, geöffnet täglich 18 bis 2 Uhr

La tana dei briganti, Kreuzberg, Oranienstr. 169, Tel. 614 85 01, geöffnet Montag bis Freitag von 11 bis 22 Uhr, Sonnabend 16 bis 22 Uhr