■ Wenn sich die postkommunistische Linke der Debatte um das „Schwarzbuch“ verweigert, bringt sie sich um ihre Zukunft
: Die Mühen einer Diskussion

Im Westen und Osten nichts Neues. Die Diskussion um das „Schwarzbuch“ ist davon geprägt, daß sie nicht stattfindet. Auch die Addition macht aus den jeweiligen Monologen keinen Dialog. Wie gewohnt wird der Text, bevor er überhaupt richtig gelesen ist, von den einen blind verteidigt und von den anderen blind attackiert. Die aus dem antikommunistischen Lager feiern ihre vermeintliche Bestätigung – die aus dem antagonistischen halten aus eben diesem Grunde dagegen.

Rechts leidet man ohnehin in mitleiderregender Weise am Wegfall des Gegenpols, gegen den man sich so viel leichter als an eigenen modernen Antworten auf die großen gesellschaftlichen Umbrüche definieren konnte. So wird, wenn denn der alte Feind abhanden gekommen ist, wenigstens das Feindbild intensiv gepflegt. Wissenschaftlich bieten nicht wenige Beiträge des „Schwarzbuches“ ernst zu nehmende neue Ergebnisse der empirischen Forschung, politisch gesehen gibt es eigentlich nichts, was nicht bekannt gewesen ist.

Dennoch wird das Buch zur Sensation stilisiert. Faktisch wird damit die bisher vornehmlich von der orthodoxen Linken ignorierte hochkarätige wissenschaftliche, politische und belletristische Literatur zur Auseinandersetzung mit kommunistischer Repression und Diktatur aus den letzten siebzig Jahren (oder wenn man so will seit Rosa Luxemburgs Notizen) nun auch aus anderen Richtungen vergessen gemacht.

Vor allem der Vorwort-Autor Stéphane Courtois verfolgt aber offensichtlich ohnehin ein historisches Ziel. Vor acht Jahren verkündete der US-Regierungsberater Fukuyama das Ende der Geschichte. Davon ist – schon wenige Jahre nach dem Sieg des Kapitalismus – angesichts offensichtlich riesiger ungelöster Herausforderungen selbst in der konservativen Literatur nicht mehr die Rede. Das „Schwarzbuch“ soll nun wohl nicht mehr und nicht weniger als die endgültige Delegitimierung allen Nachdenkens über eine Alternative besiegeln, indem die tatsächlich grausigen Seiten des geschichtlichen Versuchs warnend emporgehoben werden: Mag der Kapitalismus seine Gebrechen haben – die Alternative hat/ist Verbrechen. Warnungen sind angesichts der geschichtlichen Erfahrung legitim. Aber die Schlußfolgerung, gesellschaftliche Alternativen aus dem Nachdenken zu verbannen, ist verfehlt – eben vorausgesetzt, daß die Linke für die schmerzlichen Schlußfolgerungen und Eingeständnisse offen ist.

Was mich daher mehr bewegt, ist die Reaktion der Linken. Gewiß, wenn mit dem Vorwort die Lesart vorgegeben, gleichsam die einzig zulässige Interpretation suggeriert wird, fällt es auch dem Unvoreingenommenen schwer, die substantiellen Beiträge in diesem Band zu entdecken.

Trotzdem: Gerade die sozialistische Linke wird sich undogmatisch und sich selbst nicht schonend mit der benannten Materie auseinandersetzen müssen, kritisch und selbstkritisch, ob es nun schmerzt oder nicht. In dieser Hinsicht macht es mich rat- und hilflos, wenn trotz der umfangreichen Zeugnisse, darunter von betroffenen Kommunistinnen und Kommunisten, immer noch gar nicht so wenige nicht bereit sind, schreckliche Tatsachen kommunistischer Geschichte auch nur zur Kenntnis zu nehmen. Sie merken nicht, daß dies zur Zerstörung des eigenen Anspruchs führt, an der Überzeugung festhalten zu können, eine gesellschaftliche Alternative zum Kapitalismus sei erforderlich und möglich. Eine Alternative, die nur durch Verdrängung und Leugnung von Tatsachen denkbar ist, braucht nicht ernst genommen zu werden.

Dazu gehört auch jene Richtung der „linken“ Auseinandersetzung mit dem Schwarzbuch, die sich damit zufriedengibt, feststellen zu können, daß es auf der anderen Seite das beispiellose Verbrechen des Holocaust und des Zweiten Weltkrieges gegeben habe. Diesen Hinweis halte auch ich für dringend erforderlich. Aber: Die Toten des Kapitalismus, des Kolonialismus und der heutigen Weltwirtschaft eingeschlossen, (oder der katholischen Kirche) mit denen des Staatssozialismus aufzurechnen, läuft primär nicht auf die – dringend notwendige – Kapitalismuskritik, sondern auf die Rechtfertigung der Morde und Repressionen in einer Gesellschaft hinaus, die humanistischer und emanzipatorischer sein sollte. Hier treffen sich im übrigen die vehementesten Verteidiger und Kritiker des „Schwarzbuches“ – lediglich mit jeweils entgegengesetzten Vorzeichen – gar nicht so zufällig. Die „linken“ und „rechten“ Rechnungen, wer mehr Tote, mehr Kriege, gewichtigere Menschenrechtsverletzungen (individuelle und politische kontra soziale und kollektive Rechte) zu verantworten hat, sind zudem der zynischste Teil der Debatte um das „Schwarzbuch“.

Links findet sich darin das alte, sehr tief verwurzelte Problem wieder, das Verhältnis von Individuum und solidarischer Kollektivität (Gesellschaft) nicht gelöst zu haben. Im „Kommunistischen Manifest“ sprachen Marx und Engels von der freien Entwicklung des einzelnen als Bedingung für die freie Entwicklung aller, aber in der gesamten geschichtlichen Praxis wurde das Entgegengesetzte praktiziert. So kam es weder zur freien Gesellschaft, erst recht nicht zum freien Individuum. Es muß daher auch um weit mehr gehen als um die Anerkenntnis der stalinistischen und anderen Verbrechen. Schon vor Lenin wurde in zahlreichen linken Politikentwürfen latent oder offen das Prinzip artikuliert, daß der Zweck das Mittel heilige. Von Lenin wurde dies in Antwort auf den weißen Terror dann massiv – als roter Terror – angewandt, von Stalin zur umfassenden Doktrin erhoben. All dies hat eine Ursache auch in der nur scheinbar theoretischen Frage nach dem Verhältnis von Individuum und Kollektiv.

Ich kann nur dafür plädieren, die Beiträge des „Schwarzbuches“, die sich analytisch und empirisch mit dieser Seite kommunistischer Geschichte befassen, ernst zu nehmen. Ohne Anpassung, ohne Selbstaufgabe, ohne die Einseitigkeit, die insbesondere Courtois propagiert, aber mit entschieden kritischer Selbstbefragung. Gerade wenn die Linke ein wirkungsvoller Gegner jener werden will, die sich so selbstgerecht mit dem politischen Kommunismus auseinandersetzen, muß sie mit der eigenen geschichtlichen Praxis und deren theoretischen Begründungen ins Gericht gehen. Die Linke jedenfalls wird das Kunststück fertigbringen müssen, ihre Selbstkritik an tiefschwarzen Seiten ihrer Geschichte öffentlich und ohne Verdrängung führen zu müssen, ohne zu prokapitalistischer Apologetik beizutragen. André Brie