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Freifrau meets Kabarettist

Enthüllungsjournalismus nach Art der 50er: Die Sylter Kurzeitung und die „Ehrenkurgäste“ des Sommers 1957  ■ Von Friedhelm Caspari

Wer früher eine Reise tat, der wurde wahrgenommen. So erging es Mitte der 50er Jahren zumindest den Gästen der Nordseeinsel Sylt. Wer sich beispielsweise im Juli 1957 auf der Insel einquartierte, der fand wenig später seinen Namen mitsamt Herkunftsort in schöner alphabetischer Ordnung in der Kurzeitung von Sylt abgedruckt. Rund 4000 Urlauber waren es damals, hinzu kamen ihre Gastgeber in Westerland, Wenningstedt, Kampen, Hörnum, Rantum und Keitum.

Datenschutz war zumindest für die Kurzeitung wohl ein Fremdwort. Und so kann man noch heute nachlesen, wer auf Sylt als „Ehrenkurgast“ firmierte: An der Spitze der Gästelisten standen beispielsweise die Namen von Oberreichsbahnrat Zachow und seiner Gattin aus Berlin, die beide privat bei Brodersen in Westerland zu wohnen pflegten. Herr Dr. Hermann Veit nebst Gattin aus Karlsruhe logierten im Kampener „Haus Rungholt“. Die Westerländer „Villa Elfriede“ meldete Hans und Elfriede von Schöppenthau aus Spiegelau als Ehrenkurgäste. Und am 6. Juli bezog zum wiederholten Male Herr Professor Klatt aus Berlin im „Hotel Stadt Hamburg“ Logis.

Adelige Namen mit „von“ oder „zu“ häuften sich augenfällig, ebenso die Herren Doktoren: Bodo Graf zu Bentheim und Lilo von Brauchitsch in Kampen, Hubertus von Bethmann-Hollweg und Graf von Hardenberg daselbst. Nicht zu vergessen Maria Freifrau von Bottlenberg oder Ilse Freifrau Speck von Sternburg aus Göttingen, die im „Haus Westerhörn“ kurte.

Auch nichtadelige Prominenz vergnügte sich auf Sylt, sie wird allerdings erst auf den hinteren Seiten der Kurzeitung genannt – da-runter die Schauspieler Martin Heldt, Karl Martell und Carsta Löck, der Boxer Bubi Scholz, die Regisseure und Theaterintendanten Boleslaw Barlog und Fritz Raymond und der Kabarettist Wolfgang Neuss. Sie alle weilten im Sommer 1957 auf Sylt.

Die Werbeanzeigen der Kurzeitung geben Einblick in die Freizeitgenüsse der 50er Jahre: So verspricht eine „Gutschein“-Anzeige vom Versandhaus Gisela aus Stuttgart zum Beispiel umfassende Aufklärung mit Prospekten über „Hygienische Spezialitäten aus Frankreich und Übersee“ – Diskretion wird natürlich zugesichert. Eine Kleinanzeige darüber weiß: „Milch – erhält Gesundheit und Spannkraft“.

An anderer Stelle lockt die „Altfriesische Weinstube“ in Westerland als „älteste und bedeutendste Hummer- und Austernstube der Insel“. Eher zurückhaltend animiert der „Knurrhahn“ am Lister Hafen zu anrüchigem Treiben in der „nördlichsten Hafenbar Deutschlands“. Eine Werbung warnt: „Fahrt rücksichtsvoll, hüllt die Fußgänger nicht in Staubwolken“. Spätestens an dieser Stelle blickt der Sylt-Gast von 1998 neidvoll auf den Sommer vor 41 Jahren: trocken und heiß soll es damals gewesen sein.

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