Das Sinken der prächtigen Titanic

■ Mit dem verletzten Ronaldo geht das große Brasilien unter, weil sich Trainer Mario Zagallo ohne den Talisman Ronaldo nicht zu spielen getraut

Paris (taz) – Noch werden Tage vergehen, bevor alle Einzelheiten über die letzten Stunden vor dem Finale zwischen Brasilien und Frankreich zusammengetragen sind. Viele Fragen sind zu klären, die in der einzigen und entscheidenden münden: Warum hat Ronaldo gespielt? Auf der ersten Mannschaftsaufstellung, die eine Stunde vor Spielbeginn im Stadion verteilt wurde, war er nur als Ersatzspieler aufgeführt. Welchen Untersuchungen wurde sein linker Knöchel zu dieser Zeit unterzogen? Wie wurde im Krankenhaus von den Medizinern das Für und das Wider seines Einsatzes beurteilt, bevor Mannschaftsarzt Toledo ihn zumindest für spielfähig erklärte? Was geschah in den 45 Minuten zwischen Ronaldos verspäteter Ankunft im Stade de France und dem Anpfiff des Endspiels? Warum traf Trainer Mario Zagallo die Entscheidung, Ronaldo doch einzusetzen?

Hier liegt der Schlüssel für das größte Desaster der Seleçao, seit sie im entscheidenden Spiel der WM 1950 in Brasilien mit 1:2 gegen Uruguay unterlag. Wie damals schien auch jetzt der Weltpokal abholbereit gegen eine französische Mannschaft, der ähnlich gute Chancen eingeräumt wurden wie dem deutschen Team 1954. Doch auch damals in Bern, als ein angeschlagener Ferenç Puskas die ungarische Wunderelf nicht durchsetzen konnte, ließ wieder ein verletzter Schlüsselspieler den Favoriten in den Abgrund stürzen.

Mit Ronaldo, dem besten Stürmer der Welt, hat die brasilianische Mannschaft ein Gefühl der Unbesiegbarkeit entwickelt. Um dieses emotionale Moment wird es Zagallo vermutlich vor allem gegangen sein. Er hat also nicht allein auf einen großen Moment von Ronaldo gehofft. Vor allem sollte die Mannschaft nicht auf ihren Talismann verzichten. Doch das Hin und Her in den Stunden vor dem Spiel hatte die Mannschaft bereits den Sieg gekostet. Es fehlte den Brasilianern im Finale von Paris nicht nur das Bedrohungspotential von Ronaldo, dessen Schwäche seine Gegenspieler bald erkannt hatten. Schon vor dem Anpfiff hatten sie den Glauben an ihre Stärke verloren und das Gefühl, über einen Zauber zu verfügen. Sichtbar wurde das auf dem Spielfeld, als alle Elemente ihres Spiels, die Zagallo in den letzten Jahren aus einer Fülle von überragenden Einzelfähigkeiten in ein Mannschaftsspiel zusammengefügt hatte, im Laufe des Finales wieder in ihre Einzelteile zerfielen.

Wo noch im Halbfinale großartige Kombinationen, Spielfluß und Zauber einer perfekt abgestimmten Maschine waren, blieben im Endspiel nur noch Einzelschicksale: Junior Baiano im Deckungszentrum wurde zur lächerlichen Figur; Rivaldo verlor sich in Dribblings, die er nicht gewann; Roberto Carlos war einsam auf seiner Außenbahn; und Dunga wirkte plötzlich nur noch alt und langsam. In neunzig grausam langen Minuten war Brasilien nie in dem Spiel, an dem sie teilnehmen mußten. Elf Spieler, jeder für sich einsam mit dem Schicksal ringend, hatten gegen eine französische Mannschaft, deren Geschlossenheit und Unbedingtheit, keine Chance.

Den Zerfall des brasilianischen Teams illustrierten am besten die Einwechslungen von Denilson und Edmundo. In einem gedemütigten Team durfte besonders der junge Denilson mehr zeigen, als gut war: lustige, aber dem Ereignis unangemessene Taschenspielertricks. Edmundo, in seiner himmelschreienden Dummheit, nahm der Sache noch die letzte Würde. Als Rivaldo wegen der Verletzung eines Franzosen den Ball ins Aus spielt, ereilte ihn ein Tobsuchtsanfall.

So sank die prächtige gelb-blaue Titanic vor den Augen ihres Trainers, der ihr fast bis zum Ende des Spiels von der Trainerbank aus unablässig zuschrie, sie solle zu kombinieren beginnen. Aber die Fäden zwischen den Spielern waren längst zerschnitten oder in diesem Finale eben nie miteinander verknüpft gewesen. Zagallo mag während des Spiels daran gedacht haben, daß er 1962 als Spieler ein WM-Finale mitgewann, in dem der verletzte brasilianische Star namens Pelé nicht eingesetzt wurde. Als er hinterher gefragt wurde, weshalb er sich für Ronaldo entschieden hatte, beschimpfte Zagallo den Frager lauthals und ging. Diesen Ausbruch mag man als Eingeständnis von Zagallo verstehen, seinen Fehler erkannt zu haben. Christoph Biermann