Angst vor Fehlern

Heute entscheidet das Bundesverfassungsgericht über die Rechtschreibreform. Über Rechthaber, Eindeutigkeit, Kontingenz und die abhanden gekommenen Kläger – zum Subtext einer deutschen Debatte  ■ Von Reinhard Kahl

Entweder bekommen wir Recht, oder wir behalten Recht“, so siegesgewiß sieht der Weilheimer Deutschlehrer Friedrich Denk dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts entgegen. Denk hat vor zwei Jahren mit seiner Unterschriftenaktion bei der Buchmesse diese deutscheste aller deutschen Protestbewegungen, die gegen die Rechtschreibreform, in Gang gesetzt.

Er gehört zur aussterbenden Spezies der Oberlehrer und Hohenpriester, die ungern lernen, die aber mit großem Eifer belehren. Mit dem Lamento über die Rechtschreibreform wurde noch einmal Aufmerksamkeit für Bühnen erregt, die immer weniger beachtet werden. Aber bald wirkte der Orthographiestreit vor allem komisch. Wem fällt schon auf, daß die Woche in neuer Rechtschreibung gedruckt wird? Wen stört bei der Lektüre der Neuen Zürcher Zeitung, daß dort kein „daß“ zu finden ist? Es geht auch ohne das deutsche Sonderzeichen „ß“. Oder man benutzt es weiter. Warum eigentlich nicht? Warum nicht sogar mit dem einen oder anderen Webfehler im Text den Unterschied zu fadenscheiniger industrieller Perfektion markieren? Wieso also diese Angst vor kleinsten Abweichungen und warum so enge Normen?

Unfairer „Dolchstoß“ aus Karlsruhe

Während sich also ein Teil des Publikums bereits gelangweilt von der Rechtschreibposse abgewandt hatte und im Zuwachs an Kontingenz und Ironie einen gewissen Zivilisationsgewinn verbuchte, machte vergangene Woche ein Anwaltsehepaar aus Lübeck Schlagzeilen.

Gunda Diercks-Elsner und Thomas Elsner, denen man nicht zutraut, ein Happening zu inszenieren, erinnern uns an das Land, in dem wir leben. Weil nach Presseberichten das Bundesverfassungsgericht die Rechtschreibreform nicht stoppen wolle, versuchten die Elsners auf Fußballerart das ihnen drohende Tor mit einem finalen Foul zu verhindern. Wie es sich gehört, sanken sie selbst als erste theatralisch zu Boden und boten der Zeitlupe ihr schmerzverzerrtes Gesicht: Das Gericht sei voreingenommen, mit einem „fairen Verfahren“ sei nicht zu rechnen, denn das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe habe mehr Zeugen aus dem Lager pro als dem contra Reform vernommen. Nun hätten die Bundesrichter sogar mit Bonn konspiriert und das Ergebnis bereits vorab verraten.

Das war die gleiche Textur, die Tage zuvor Berti Vogts präsentiert hatte. Nach der Niederlage seiner wenig eleganten, häufig foulenden, immer angestrengten Elf kläffte der Terrier: Der Schiedsrichter war unfair. Vogts fragte wissend: „Gab es gewisse Anweisungen von oben?“ Alter deutscher Diskurs: im Felde ungeschlagen, aber von düsteren Mächten gemeuchelt wie damals, als der Dolchstoß aus Versailles kam.

Jetzt muß eine Verschwörung der Richter herhalten, Richter, die den Lübecker Eltern zweier Kinder ihr Grundrecht zu erziehen einschränken, wenn „daß“ nicht weiterhin mit „ß“, sondern in Schulen künftig mit zwei „s“ geschrieben werden soll. Mit ihrem Fallrückzieher versuchten die Anwälte, den Spielabbruch durchzusetzen. Tatsächlich stellte der Rückzug der Klage das Verfassungsgericht vor Probleme. Denn das gab es noch nie, das höchste deutsche Gericht soll urteilen, obwohl sich die Kläger davongemacht haben. Aber das Urteil ergeht auch ohne Kläger. Das ist eine Karlsruher Innovation. Die Richter des Bundesverfassungsgerichts werden, wenn die Indiskretionen nicht täuschen – die Aufregung der Kläger spricht für die Verläßlichkeit der Nachricht –, die Rechtschreibreform nicht stoppen. Schon vor zwei Jahren scheiterte in Karlsruhe der Jenaer Rechtsprofessor Rolf Gröschner, der jetzt seine Lübecker Juristenkollegen vertritt. Damals focht er für seine Tochter und in eigener Sache.

Die Argumentation des Rechtsprofessors bietet einen aufschlußreichen Einblick in die Geheimgrammatik der untergehenden Kultur des Richtigmachens und der Angst vor Fehlern. Gröschner fürchtete, künftig „als Falschschreiber einer Blamage ausgesetzt zu sein“. An den bisherigen Regeln hänge seine „sprachliche Identität“. Außerdem fühlte sich der Professor in seiner Lehrfreiheit eingeschränkt, wenn er künftig nicht mehr seinen Studenten Abweichungen von jener alten Rechtschreibung, die er für die einzig richtige hält, als Fehler anstreichen darf. So argumentierte er tatsächlich. Fehler zu machen stuften die Richter sowenig als tödliche Blamage ein, wie sie das Fehlerkorrigieren als Grundrecht eines Hochschullehrers schützen wollten. In der Begründung argumentieren sie, der Kläger sei doch nicht gezwungen, sich der Reform anzupassen.

Rechtschreibung in ihrer engen und ängstlichen Auslegung ist eine Erscheinung des Industriezeitalters. Massenproduktion brauchte und braucht strikte Normen, die unbedingt einzuhalten sind. Vor einhundert Jahren verlangten Lehrer und Drucker nach eindeutiger Schreibweise und bekamen sie. Jetzt löst sich diese Eindeutigkeit wieder auf. Das Jahrhundert der Disziplin, der Stechuhr und des Rotstifts läuft aus. Das Leben wird spannender. Aber auch unsicherer. Das macht vielen angst. Rechtschreibung wird dabei zum Symbol, zumal die Deutschen symbolische Politik und Pseudopolitik mehr lieben als Politik, die ausgehandelt und erstritten werden muß.

Es wird spannender, aber auch unsicherer

Wir erleben die Abkehr vom simplen Richtig-falsch- und vom einfältigen Entweder-oder-Denken. An dessen Stelle tritt die Ordnung von möglich/unmöglich. Also: nicht „alles wird möglich“, wie manche fürchten, die den orthographischen Anarchismus heraufziehen sehen, nicht „jeder kann schreiben, wie er will“, das ist dumme Polemik. Aber die Ablösung einer richtig/falsch konnotierten Welt, an deren Grenzen manchmal elektrisch geladene Zäune standen, von breiteren Übergängen, das ist eine echte Evolution, die wir übrigens am Ende der industriellen Eisenzeit überall finden. Also Erweiterung der Spielräume dessen, was möglich ist! Und gegenüber Abweichungen mehr Fehlertoleranz!

Fehlertoleranz – der Begriff kommt aus den Theorien über lernende Organisationen in der Wirtschaft. Dort entdeckt man ja, daß die Moral der Ausführenden, der Anwender und der Kopisten erschöpft ist. Grenzgänger werden gesucht, überall. Die eng ausgelegte Rechtschreibung war gewissermaßen eine Initiation in ein Denken ohne Alternativen, für eine Welt, in der es immer nur die eine richtige Lösung gibt.

Tatsächlich geht es im deutschen Rechtschreibkrieg gar nicht nur um Orthographie. Es geht ums Aufbrechen mentaler Orthodoxie. An die Stelle von striktem richtig oder falsch tritt das Wörtchen „und“. In einem Aufsatz mit dem merkwürdigen Titel „Und“ fragte bereits der abstrakte Maler Wassily Kandinsky nach dem Wort, das das 20. Jahrhundert vom 19. Jahrhundert unterscheidet. Es sei das Wort „und“, das an die Stelle der zweiwertigen Logik von „ja – nein“ und der Moral „ich oder du“ tritt. Wie wir wissen, hat das 20. Jahrhundert das Entweder-oder-Denken noch einmal blutig radikalisiert. Vielleicht gelingt es ja nun im Übergang zum 21. Jahrhundert, dem „und“ die Ehre zu verschaffen?

Je länger nun der unmögliche Streit um die Reform dauert, die ja tatsächlich zum Teil eine Deform ist, um so unüberhörbarer wird diese von niemandem als Programm verkündete Botschaft schon für Erstkläßler: Entscheide dich selbst und überprüfe, ob du dich damit mitteilen kannst. Es gibt nicht mehr den einen Gott, weder in der Rechtschreibung noch anderswo.

Träume von einer zentralen Regelung

Auch die jüngste, eher zahme und nur deshalb bisher so weit durchgesetzte Rechtschreibreform lebt noch von dem Traum einer alle Zweifelsfälle berücksichtigenden und ordnenden zentralistischen Regelungskraft. Vielleicht provoziert dieser Zentralismus, dieser staatliche Regelungsanspruch Widerspruch, der sich auch an anderen Fragen gebildet hat, sich aber dort, wo er eher am Platz wäre, nicht heraustraut und dort größere Argumentationsschwierigkeiten hat als beim rechten Schreiben, denn darin ist ja – anders als bei der Steuerreform, beim Euro, bei der Zukunft von Politik im Zeitalter der Globalisierung – ein jeder Experte.

„Nachts 10. Im Garten versteht sich iezt von selbst. ging um eilf heut früh in die stadt steckte mich in erbaare Kleider ... wir haben Italiäners hier ... dann bey Frau v. Stein zu Tisch. Wir schwazzten und trieben allerley ...“ Goethe im Mai 1776.

Vielleicht würde uns ja beim Lesen etwas mehr Irritation guttun, die daran erinnert, daß wir die Welt, auch die vertrauteste, konstruiert haben und immer wieder konstruieren und daß sie nicht einfach so ist, wie sie ist, und so auch nicht bleiben wird.