Der Arc de Triomphe ist am späten Sonntag abend zur Projektionsfläche nationalen Selbstbewußtseins geworden. Mit der größten Party seit der Befreiung von den Nazis feierte Paris Frankreichs „Victoire“ bei der Fußball-Weltmeisterschaft. Die Kicker um Zinedine Zidane gelten nach dem Gewinn des Weltpokals als Symbole einer gelungenen Integration. Aus Paris Dorothea Hahn

Der Coup des Zizou

Zinedine Zidanes Jungengesicht leuchtet übermannsgroß auf dem steinernen Relief zum Ruhm französischer Kriegszüge. Weit über seinem Kopf flimmert eine ganze Nacht lang der grüne Schriftzug „Champion du Monde“ über das mit napoleonischen Generälen geschmückte Kapitell. Dreißig Meter weiter unten, auf den Champs-Élysées, defilieren Hunderttausende vorbei und skandieren bis zum Morgengrauen den Spitznamen des in einer Marseiller Vorstadt geborenen Fußballers „Zizou“, der an diesem Abend zwei Tore geschossen hat, die Frankreich in den Fußballerhimmer beförderten.

Der Arc de Triomphe ist an diesem Abend erneut zur Projektionsfläche eines nationalen Sieges geworden. Aus einem fünften Stock gegenüber werfen Laserstrahlen die Bilder der Fußballer und Parolen zu ihrem Sieg auf dem Rasen des Stade de France an den Triumphbogen. Die Menschen ziehen zu dem massigen Bau, in dessen Mitte der „unbekannte Soldat“ ruht, umrunden ihn auf dem Asphalt der Place de l'Étoile und ziehen auf der anderen Straßenseite der Champs-Élysées wieder zu den Tuilerien zurück.

Eine Million, vielleicht sogar mehr, sind gekommen. Sie haben die sechsspurigen Champs-Élysées in Blau getunkt. Das Trikot der Fußballer ist ihre Uniform. Die Trikolore ihr Accessoire. Die Menschen taumeln von Fahne zu Fahne. Applaudieren der Fahne. Hüllen ihre Geliebten in die Fahne. Schwenken die Fahne in den Himmel. Schminken die Fahne auf ihr Gesicht. Schmieren die Fahne in ihre Haare.

Dazu schreien sie, bis sie nur noch heiser krähen können: „On a gagné – wir haben gewonnen.“ Und: On est champion.

Nie seit der Befreiung von den Nazis waren mehr Menschen gleichzeitig auf der „schönsten Avenue der Welt“. Diese hier sind jung. Meist unter 30 Jahre alt. Fast die Hälfte sind Frauen. Manche junge Frauen haben sich zu dritt oder zu viert untergehakt und umarmt. Auf zentimeterdicken Plateausohlen hüpfen sie kreischend durch die Menschenmenge.

Zwischen den vielen blauweißroten schwingt gelegentlich auch eine grünweißrote Fahne mit. Sie steht für jenes Algerien, aus dem Zinedine Zidanes Vorfahren und auch jene vieler jubelnder Menschen stammen. Wo immer die grünweißrote Fahne auftaucht, bekommt auch sie Applaus. Dazu rufen die Leute: „Zizou! Zizou! Zizou!“

In den Redaktionsstuben haben die BerufskommentatorInnen bereits mit der Exegese der Phänomene „Zizou“ und „Lilian Thuram“, der im Halbfinale zwei Tore schoß, begonnen. Statt der Beintechnik suchen sie nach Hautfarbe und regionaler Herkunft der Fußballer. Sie wollen darin ein positives Zeichen erkennen. Die Torschützen mutieren dabei zu Helden der „gelungenen französischen Integration“.

Auf den Champs-Élysées findet an diesem Abend der Höhepunkt eines nationalen Taumels statt, der eine knappe Woche zuvor im Halbfinale der Fußballweltmeisterschaft begonnen hat. Seitdem Frankreich gegen Kroatien gesiegt und sich für das Endspiel mit dem amtierenden Weltmeister Brasilien qualifiziert hat, war die Spannung schier unerträglich geworden.

Alle Medien und immer mehr PolitikerInnen, Intellektuelle, SportlerInnen und SchauspielerInnen bekannten sich zu ihrer Hoffnung auf einen „französischen Sieg“. Viele Prominente hüllten sich zu diesem Bekennerzweck in das Trikot ihrer Nationalmannschaft. Fast alle beschworen, daß sie schon immer „an einen französischen Sieg“ geglaubt hätten. In den letzten Stunden vor dem Spiel war ganz Paris ein Fußballstadion. Die Stadt hallte wider von hupenden Autos und explodierenden Knallraketen. Aus den Fenstern hingen die bereits für den Nationalfeiertag am 14. Juli ausgepackten Fahnen. Über die Straßen liefen Jugendliche, die laut grölend prognostizierten: On va gagner. „Ja, werdet ihr“, schrie irgendwo ein einsamer Anwohner zurück, bevor er alle Fenster seiner Wohnung verrammelte. Um von dieser „nationalen Verblödung“ verschont zu bleiben, wie er erklärte.

Ein Entfliehen vor dem Fußballfieber, von dem ein großer Teil von Paris während der längsten Zeit der Weltmeisterschaft fast verschont blieb, war in den Stunden vor dem entscheidenden Spiel nicht mehr möglich. Ein anderes Thema als „unsere Jungs“ gab es nicht. Die Aktualität stand still. Die französische Weltnachrichtenlage reduzierten sich fast vollständig auf das ovale Fußballstadion im Norden von Paris, wohin die großen Sendeanstalten ihre Nachrichtenstudios verlegt hatten.

Schon vor dem Anpfiff des Spiels kündigten die französischen Medien die „größte Fete seit der Befreiung“ an, womit sie der Fußball-WM den Stellenwert des alliierten Siegs über Nazideutschland verpaßten. In den Bezirken von Paris hingegen verlief die Fußballschlacht wie der ganz normale Alltag. Aus einer Bar nahe dem Parque de Belleville, die ihre Decke bis zum Schluß der Weltmeisterschaft mit den Fußball-Fahnen der ausgeschiedenen Länder Marokko und Tunesien und des überhaupt nicht geladenen Algerien geschmückt hatte, traten nach dem ersten Tor von Zinedine Zidane zwei Jungs vor die Tür und grölten mit dem harten Akzent der zweiten Einwanderergeneration aus Nordafrika auf die Straße: „Was wäre Frankreich ohne seine Araber?“ Aus einem Nachbarhaus kam postwendend die ebenfalls gegrölte Antwort: „Wer hat die denn überhaupt erst mit Hühnchen gefüttert?“

Nach Zinedine Zidanes zweitem Tor schwenkte eine andere Gruppe von Jungs aus demselben Stadtteil die rotweiße tunesische Fahne. „Lang leben die beurs“, bejubelten sie dabei sich selbst, die zweite Generation von EinwandererInnen aus Nordafrika. Eine knappe Stunde später waren sie alle auf den Champs-Élysées angekommen, wo sie ihre eigene Freude in den blauen Trikolore- Nationaltrikot-Taumel hineinschwenkten.

Am folgenden Tag erklärten manche Zeitungen, Frankreich habe „das Ende des Politischen“ oder zumindest „das Ende des politisch Korrekten“ erlebt. Dann kündigten sie eine neue nationale Einheit an, deren Anfang gleich heute, bei dem – diesmal militärischen – Defilee über die Champs- Élysées bemerkbar werde.

Jener Nachbar aber, der sich am Sonntag während der nationalen Freudenfeier in seiner Wohnung verrammelt hatte, prognostizierte düster, sein Land werde „das alles teuer bezahlen“.