■ Normalzeit
: Von den letzten Dingen

Spare in der Not — dann hast du Zeit dazu! Alte proletarische Weisheit. Alexander Solschenizyn hat in der Sowjetunion vor 20 Jahren den Gedanken wiederbelebt, daß es eher darum geht, weniger zum Leben zu gebrauchen, als mehr zu verdienen. In den USA hatte zuvor Herbert Marcuse umgekehrt — für den konsum-unkritischen Umgang mit den (kapitalistischen) Dingen und Dienstleitungen der Welt — von „repressiver Entsublimierung“ gesprochen. Man ist versucht, damit nun die Konjunktur von Pornoqueens, Sexmessen und „Fun-Events“ wie Oben-Ohne-Gokart-Rennen und Round- Table-Dancing zu fassen. Solschenizyn ging es um eine moralische Ökonomie, für eine (zumal staatlich exekutierte) Ökologie — wie 5 DM pro Liter Sprit — hatte er eher Spott übrig.

Zwischen den beiden Praxis- polen Umweltschutz und Konsumkritik bewegen sich die Beiträge eines Readers aus dem Gießener Anabas-Verlag zur Alltagskultur: „Welche Dinge braucht der Mensch?“ Vorausgegangen war eine Geo-Fotoreportage, in der 30 repräsentativ ausgewählte Familien (aus Äthiopien, Bhutan, Japan und der BRD z.B.) ihr gesamtes Hab und Gut neben sich ausgebreitet hatten.

Jeder Bundesbürger besitzt durchschnittlich 10.000 Dinge. Das ist zuviel! Zumal er — im Gegensatz zu dem fast autarken Äthiopier mit 30 Dingen — „höchst abhängig“ von einer kontinuierlichen „Versorgung mit Wasser, Strom, Gas, Nahrungsmittel“ etc. ist, wie die Herausgeberin Dagmar Steffen meint. Und dies ist längst zu einer — aufgrund der bei Strafe des gesellschaftlichen Kollaps erzwungenen Produktinnovationen — elenden Endlosschraube geworden: Auf den Fernseher folgt der Videorecorder, auf das Telefon der Anrufbeantworter, E-Mail usw. Auf das Surfbrett folgte das Skateboard, dann Inline-Roller, entsprechende Sportswear und so weiter.

In einer solchen Ökonomie kommt es immer wieder zu grotesken Kurzschlüssen: Ein Arbeiter in meiner Nachbarschaft z.B., der sich auf seiner 12.000-DM- Hifi-Stereoanlage nichts anderes als eine „Test“-Schallplatte anhörte; ein Stern-Redakteur, der in seiner für 250.000 DM ausgerüsteteten Hobby-Werkstatt nur Brotbretter aus Teakholz herstellt ... Ivan Illich hat ausgerechnet, daß ein Amerikaner, um mit seinem Auto sechs Kilometer fahren zu können, eine Lebensstunde arbeiten muß. Er ist somit im Endeffekt langsamer als jeder Radfahrer. Letzterer wird jedoch — z.B. über Fahrrad-Innovationen — ebenfalls ständig zur Mehrarbeit „motiviert“.

Solschenizyns Reduktions- moral bleibt hierbei im Kern „kommunistisch“ — insofern sie sich zwar gegen die Verlogenheit des (karrieristischen) Mittuns wendet, aber dabei einem Ethos der beglückenden Tätigkeit verpflichtet bleibt. Schon in seinem ersten (harmlosen) Lagerbericht lobte der Held, Iwan Denissowitsch, das (erzwungene) Mauern einer Wand, obwohl sie dem Wachpersonal zugute kam.

Gute Arbeit hat ihren Sinn in sich selbst, der nicht ohne weiteres durch Eigentumsverhältnisse und sonstige Zwänge zerstört werden kann (umgekehrt kann man Menschen mit sinnloser Arbeit, wie das Auf- und wieder Zuschaufeln von Gräben etwa, fertig machen).

Das spricht nicht gegen die Sozialrevolutionärin Vera Figner, die einst aus der Gutshof-Mißwirtschaft heraus gefolgert hatte, daß alles Land den Bauern gehören müsse. Aber noch Max Weber konnte sich nicht genug über die deutschen Arbeiter wundern, die sich trotz Sympathien für den Kommunismus mit ihrem jeweiligen Betrieb identifizierten. Sie gingen sozusagen „voll“ in ihrer Tätigkeit auf, ohne groß nach dem Verbleib ihrer Produkte zu fragen, in denen ihr halbes Leben steckte. Die andere Hälfte geht in die Konsumption ein.

In besagtem Anabas-Reader schreibt Hermann Glaser über ein Gedicht des Kriegsgefangenen Günter Eich, es heißt „Inventur“, und benennt die (letzten?) Dinge, die ihm im Lager geblieben sind, wie Socken oder eine Bleistiftmine. Für Glaser sind sie Ausdruck „eines reduzierten Lebens“. Unkommentiert bleibt dagegen Pablo Nerudas „Ode an die Dinge“, die der Dichter über alles liebte — wie Zangen, Scheren, Serviettenringe, Suppenschüsseln, Salzfässer etc. Sie waren für ihn „so sehr da [...], daß sie ein halbes Leben mit mir lebten und dereinst auch einen halben Tod mit mir sterben“. Es wird nicht gesagt, ob sie sein Eigentum waren. Denkbar wäre also auch statt Reduzierung ein „Fade-Away“ von Dingen — dadurch daß sie unsererer Aufmerksamkeit entgleiten (eine Idee von J.L.Borges). Helmut Höge

wird fortgesetzt