■ Schlagloch
: Ein sonniger Tag im Juli 1967 Von Mathias Greffrath

„Wir wollen mit diesem ganzen Dreck nichts zu tun haben.“ Herbert Marcuse am 14. Juli 1967 in der FU Berlin

Unterwegs zum Sommerfest: Auf den Gegenbahnsteigen seltsam heitere Jugendliche auf dem Weg nach Berlin. Vorm Speisewagenfenster regnet es, drinnen halbherzige Debatten in rotgrünakademischer Runde, ob es wahnwitziger sei, Tempo 100 zu fordern oder im Wahlkampf auf jede Wahrheit zu verzichten. Schlechte Laune, weil Schröder nicht zu verhindern ist, schlechte Laune, weil niemand die These wagt, daß irgendeine Koalition etwas ändern wird.

Auf der Rückfahrt – im Gegen- Regionalzug halbtote Raverkinder, immer noch regnet es milde – der Essay zur Stimmung: In der Berliner Zeitung erneuert Gustav Seibt die lähmende Wahrheit, daß die Differenz zwischen Politik und Werbung geschleift, Kultur kommerzialisiert, Öffentlichkeit zerstört sei. Einverstanden. „Wenn man aufmerksame Kinderaugen nachmittägliche Talkshows, von Bärbel bis Fliege, anstaunen sieht, dann erhebt sich doch die Frage“, und dann der überraschende Schluß: „ob dieses alles gut sei.“ Neotolerantes Versöhnungslicht: „Man muß all das nicht dämonisieren. Vor allem kann man es gar nicht mehr dämonisieren, denn es beschreibt die Welt, in der wir zu Hause sind.“ Kulturkritik sei erledigt, Begriffe wie „strukturelle Gewalt“ und „repressive Toleranz“ seien „gestrig und verstaubt“.

Repressive Toleranz, strukturelle Gewalt, Konsumterror – ich habe diese Kategorien zum ersten Mal auf einem Sommerfest gehört. Am 13. Juli l967, es war ein sehr sonniger Tag. Ins Audimax der FU paßte niemand mehr rein. Draußen lagen noch einmal zweitausend. Der Mann, der aufs Podium stieg, sprach berlinisch mit leicht amerikanischem Akzent. Zur Begrüßung hob er die rechte Faust, wie die Black Panthers es damals taten. Am Anfang seiner dreitägigen Sommerschule verkündete Herbert Marcuse, der populärste Denker der Frankfurter Schule, das „Ende der Utopie“: Der Kapitalismus habe die Voraussetzungen für ein Leben auf Erden, frei von Hunger, Unterdrückung und unbegründeter Ungleichheit geschaffen. Ein Schleier aus Macht und Manipulation verhindere seine Verwirklichung. Die Integration der Arbeiterklasse, Konsumismus, die Zähmung der Kunst zum Busineß – dies alles schieße zusammen zu einer „Gesellschaft ohne Opposition“.

Marcuses Theorie kommt mir vor wie ein Negativ, das der „Fortschritt“ immer weiter entwickelt: „Denk-, Rede und Gewissensfreiheit waren – ganz wie die freie Wirtschaft, deren Förderung und Schutz sie dienten – zu Beginn der Industriegesellschaft wesentlich kritische Ideen. Einmal institutionalisiert, teilten diese Rechte das Schicksal der Gesellschaft“, heißt es im „Eindimensionalen Menschen“ (l964). Die bürgerliche Redefreiheit schützt heute die multinationalen Bewußtseinsfabrikanten, die Wissenschaftsfreiheit die Klonierer, die Wirtschaftsfreiheit die Abschaffung der Politik. Die Kritik der viktorianischen Moral endet (auch) im Sexbusineß: „repressive Entsublimierung“; auf 500 Kanälen kann man alles sagen, aber nichts damit bewirken: „repressive Toleranz“; Massentanzveranstaltungen werden als politische Demonstration gefördert, stellen „Euphorie im Unglück“ her. Verstaubte Kategorien?

Marcuses Aufklärung unterschied zwischen wahren und falschen Bedürfnissen, wie es die Ökonomie bis Keynes noch tat: Falsch sind Bedürfnisse, die „harte Arbeit, Aggressivität, Elend und Ungerechtigkeit verewigen“. Dagegen setzte Marcuse einen nicht manipulierbaren Rest: den Vernunftanspruch der Aufklärung, vor allem aber eine „vitale“ Grundlage der sozialen Bewegung: die „biologische Dimension“, die tief sitzende Sehnsucht nach einer Gesellschaft ohne Existenzkampf, Konformitätszwang, Triebverdrängung, Frauenunterdrückung. Die Menschen wollen Ruhe, Zärtlichkeit, Privatheit, Schönheit, nicht-repressive Gemeinschaft; sie werden möglich, wenn die Lebensnot technisch bewältigt ist.

Weil er an die Unzerstörbarkeit dieser Wünsche glaubte, propagierte Marcuse die „Große Weigerung“: „Selbst wenn wir nicht sehen, daß die Opposition hilft, müssen wir weitermachen, wenn wir noch als Menschen arbeiten und glücklich sein wollen.“ Ich revoltiere, also bin ich.

Erweckung macht optimistisch; die Folge war eine Unzahl von Landkommunen, Lebensexperimenten, Stadtteilgruppen, Barfußhistorikern, Kulturfabriken; geknickten Lebensläufen, auch Terrorismen. Die Kosten waren hoch, aber die Gewinne auch, und von einigen Spätheimkehrern abgesehen, haben es wenige bereut. Später inspirierte vieles davon die Marktstrategen, die den Aufbruch in Warenberge verwandelten: Klamotten, Turnschuhe, Abenteuertourismus, Toskana-Lifestyle.

„Der Übergang ist geschafft“, schreibt Gustav Seibt in seinem milden Nekrolog auf die Kulturkritik, „und der vorangegangene Zustand kaum noch vorstellbar. Bald werden die letzten Individuen ausgestorben sein, die noch ohne Massenmedien und Fernsehen großgeworden sind.“ Keine Alternativen mehr in Sicht? Der Antiutopiker vergißt eine Dimension: Sicher, die utopischen Hoffnungen, ob bürgerlich, ob sozialistisch, sind gebrochen. Aber der herrschende Globalismus nötigt uns heute ganz unmittelbar, unsere utopischsten Wünsche als politische Triebkräfte wieder fest ins Auge zu fassen: Die „biologische Dimension“ speist nicht länger Träume von der Versöhnung mit der Natur, sondern diktiert eine Politik des Überlebens; die „totale Rekonstruktion der Städte und die Wiederherstellung der Natur“ ist nicht länger sozialistisches Projekt, sondern die letzte sinnvolle ABM.

Das „Ende der Utopie“ rückt immer näher. Jeder unserer nachhaltigen Wünsche stößt an Systemgrenzen: Familie haben und in der Stadt leben, das ist etwas für Millionäre geworden; der Wunsch nach sinnvoller Arbeit ist ohne ihre radikale Umverteilung nicht mehr zu stillen, der Wunsch nach Gesundheit nicht im herrschenden Krankenwesen, der Wunsch nach Heimat nicht in aufgezwungener Dauermobilität, der Wunsch nach Muße nicht in einer Welt, in der es immer schwieriger wird, allein zu sein.

Marcuse, der am 19. Juli vor 100 Jahren geboren wurde, war Analytiker und Erwecker. Er riet den heimatlosen Nachkriegskindern auf dem Rasen der Garystraße, ihren Wünschen zu folgen und darauf zu achten, wo sie das hinführt. Nichts an seinen Kategorien ist überholt, es sei denn, man begeht den sozialdemokratischen Urfehler: zu glauben, man habe Unrecht gehabt, weil man verloren hat.

1968 war keine Jugendrevolte. 68 war vorbereitet von einer Handvoll wirklichen Professoren, Bekennern, die ihren Erkenntnissen stoisch bis zur Obsession treu geblieben waren. Sie gaben unserem vagen Unbehagen Worte, Theorien und Richtung. Sie muteten uns etwas zu. Ernst dem eigenen Leben gegenüber, den eigenen Erkenntnissen, den eigenen Gefühlen. Wir sind noch etwas schuldig.