Robert-Lemke-Syndrom im World Wide Web

■ Was bin ich? Das ist die zentrale Frage von Frank Riepe, einem virtuellen Botschaftsangestellten eines Staates in Italien, den es nicht gibt. Der beeindruckte Bildungsverein KUBO im Ostertor hat dem Künstler deshalb nun einen Kunstpreis verliehen

Eine wahre Geschichte. Seborga liegt in Italien. Für die 308 wahlberechtigten BewohnerInnen dieses Bergdorfes am Rande der italofranzösischen Grenze eine schmerzliche Tatsache. Denn Seborga will unabhängig werden und unter dem Dorfadeligen Giorgio dem I., dem zukünftigen „Principe del Principato di Seborga“, als eigenständiges Fürstentum ins nächste Jahrtausend ziehen.

Man ahnt es schon: SeborganerInnen sind Erdlinge der etwas bizarren Art. Und als solche brauchen sie ganz dringend eine Botschaft, die ihre nicht minder bizarren Interessen einer zumeist mit Unverständnis reagierenden Öffentlichkeit erläutert.

Noch eine wahre Geschichte. Frank Riepe ist Botschaftsangestellter. Und erneut ahnt man: Das schließt sich in diesem Artikel nicht zufällig an das zuvor Erzählte an. Für einen einfachen Angestellten allerdings nimmt er sich ziemlich viel heraus. Wahllos verteilt er Seborganische Häuser an InteressentInnen. Er legt fest, daß die zukünftige Währung des Fürstentums „Luigino“ heißen und so viel wert sein soll wie 10.000 Lire. Und er schenkt allen Flüchtlingen dieser Welt einen Asylplatz in dem norditalienischen Bergdorf.

Giorgio der I., der momentan noch im Status eines Blumenhändlers darauf wartet, bald in das prestigeträchtige Amt eines Regierungschefs zu wechseln, hat sich bei Frank Riepe bereits über dessen eigensinnige Vertretungstätigkeit wüst beschwert. Doch ohne Erfolg. Denn die Botschaft von Seborga ist ein virtuelles Konstrukt, das Frank Riepe vor zweieinhalb Jahren als Internet-Kunstprojekt ins Leben gerufen hat. Und als solches gehorcht es einzig und allein seinen Gesetzen – zumindest solange der Seborganische Blumenhändler tatsächlich nicht in der Realwelt in Amt und Würden ist.

Was, so hofft allerdings Frank Riepe, nicht so bald geschehen wird. Nicht etwa aus Furcht vor dem Verlust seines einzigartigen Jobs als virtueller Botschaftsangestellter. Sondern weil am Anfang seines auf den ersten Blick lustig daherkommenden Seborgaprojekts alles andere als komische Erfahrungen standen.

Mitte der 90er Jahre war Riepe, in einem kleinen Nest bei Bielefeld geboren, Mitglied einer Bielefelder KünstlerInnengruppe namens „Kunstcoop“, die mit KünstlerInnen im eingekesselten Sarajevo per Internet Kunstaktionen gegen den Krieg initiieren wollte. Das Projekt scheiterte, doch geblieben waren Riepe aus dieser Zeit die Faszina-tion für das Medium und eine geschärfte Sensibilität für Konflikte, die ihren Ausgang u.a. in anfangs harmlos erscheinenden seperatistischen Bewegungen haben.

Seborga ist nicht Sarajevo – doch geheuer sind Riepe solche Gestalten nicht, die ihr Unwohlsein in der modernen Welt durch die Gründung winziger sinnstiftender Einheiten zu kompensieren suchen. Aus der anfänglichen Ironie, mit der seine Botschaftsgründung auf die Nachrichten aus Seborga reagierte, ist in der Zwischenzeit eine hartnäckige Beschäftigung mit grundsätzlichen Problemen geworden.

Was bedeutet ihnen Glück? Wo-raus basteln Menschen sich ihre Identität? Kann Symbolik identitätsstiftend wirken? Oder gar die Kunst? Fragen, die der 36jährige seit Jahren mit den zahlreichen BesucherInnen der Internetbotschaft bzw. der in viele verschiedene Kunstprojekte unterteilten Webside „Artwarpeace“ per E-mail erörtert und auf der Webside für alle zugänglich dokumentiert.

Spinner, die sich von ARD und ZDF verfolgt fühlen, bitten in Seborga ebenso um Asyl wie Nilpferdzüchter in spe auf der Suche nach geeigneten Aufzuchtflächen, Sektenfreaks oder militante katholische Agitatoren. Aber auch ein junger Israeli, den die Angst vor dem anstehenden Militärdienst ins Exil treibt, will ebenso Einwohner von Riepes künstlerischem Projekt werden wie die junge Bulgarin, die als Tänzerin in ihrer realen Heimat nicht überleben kann. Seit einiger Zeit drängt die virtuelle Seborga-Botschaft aus dem Netz in die reale Welt. Im Hamburger Kunstverein hat Riepe kürzlich eine temporäre Niederlassung gegründet und mit Phantasiestempeln und Dokumenten das Staatsvolk gemehrt.

Trotz (oder gerade wegen) all dieser Netzaktivitäten entwickelt Riepe zunehmend aber eine kritische Distanz zum Internet. „Das Netz ist eine von weißen Männern dominierte Sphäre, das von technischen Entwicklungen dominiert wird, die weltweit viele Menschen kategorisch von einer gleichberechtigten Teilnahme ausschließt“, sagt Riepe und ist sich damit auch der eigenen Naivität bewußt, mit der er zu Beginn die scheinbar grenzenlosen demokratischen Impulse und Möglichkeiten des Internet feierte. Diese Ernüchterung selbst will er zunehmend in seinen Internetprojekten zum Thema machen. Sex und Autos – „was interessiert weiße Männer mehr?“ – werden dabei eine gewisse Rolle spielen.

Dennoch: Die Skepsis ist noch nicht so groß, daß er darauf verzichten wird, in Zukunft per Internet seine Hotelzimmer zu buchen. „Ist einfach viel praktischer so.“ Und wenn ihm jemand einen Preis für seine Internetkunst veleihen will, wird er wohl auch nicht nein sagen. Über die kleine Auszeichnung der Kultur-initiative KUBO für sein Seborgaprojekt hat er sich jedenfalls gefreut. Ganz real. zott

Die „Invisible Embassy of Seborga“ hat die Anschrift http://www.thing.de/artwarpeace und ist 24 Stunden am Tag geöffnet. Frank Riepe, der virtuelle Botschaftsangestellte, ist zudem unter ancor§is-bremen.de zu erreichen. Den KUBO-Kunstpreis und 1.000 Mark erhält Riepe mit den vier anderen PreisträgerInnen Sabine Wewer, Silke Thoss, York Christioph Riccius und Eckardt Kreye im Oktober