Vermutungen am Krankenbett

Die neue Richtlinie für Sterbehilfe wird wieder nur hinter verschlossenen Türen verhandelt. Obwohl der Präsident der Bundesärztekammer eine Überarbeitung des Entwurfs versprach, blieben die strittigen Passagen bis jetzt unverändert  ■ Von Klaus-Peter Görlitzer

Wird die Bundesärztekammer bald offiziell empfehlen, komatöse und andere nicht einwilligungsfähige PatientInnen verhungern zu lassen, sofern sie damit „mutmaßlich einverstanden“ sind? Oder wird sie den todbringenden Abbruch medizinischer Behandlungen weiterhin ablehnen? Man kann darüber spekulieren. Denn die Ärztevertreter, die eine breite öffentliche Diskussion über ihre neue Sterbehilferichtlinie zugesichert hatten, beraten längst wieder hinter verschlossenen Türen, das nächste Mal am kommenden Dienstag.

Dabei startete die Bundesärztekammer (BÄK) im Januar mit einem schönen Erfolg: Das Symposium zur „Ärztlichen Sterbebegleitung“ in Königswinter geriet zu einem Medienereignis mit – wie es in einem BÄK-Bericht heißt – „positiver Resonanz“. Über dreißig JournalistInnen unter den 140 TeilnehmerInnen sorgten dafür, daß BÄK-Präsident Karsten Vilmar via Presse, Funk und Fernsehen zwei wichtige Botschaften unter die Leute bringen konnte: Der umstrittene Entwurf einer „Richtlinie zur ärztlichen Sterbebegleitung und den Grenzen zumutbarer Behandlung“ werde „überarbeitet und verbessert“, versprach Vilmar. Und er betonte, die Ärztekammer habe „bewußt die öffentliche Diskussion über die Richtlinie gesucht“.

Der medienwirksame Auftritt der BÄK-Spitze ist ein halbes Jahr her. Seitdem gibt sich die Ärztekammer ziemlich zugeknöpft. Ihre Kölner Pressestelle beschränkt sich auf die kurze Mitteilung, die Richtlinie werde „zur Zeit“ im Ausschuß für medizinisch-juristische Grundsatzfragen überarbeitet und anschließend dem BÄK-Vorstand vorgelegt.

Mehr mitzuteilen gäbe es schon: Nächste Woche tagt in Berlin der Redaktionsausschuß. Sein Vorsitzender, der Jenaer Medizinprofessor Eggert Beleites, hat der vertraulichen Expertenrunde einen „inoffiziellen Änderungsentwurf“ unterbreitet. Das interne Papier unterscheidet sich allerdings kaum von jenem Entwurf, den der BÄK-Vorstand 1997 veröffentlicht hatte. Damals hagelte es vielfältige Kritik, vor allem von Sozialverbänden, Delegierten des Ärztetages sowie den Bonner ParlamentarierInnen Monika Knoche, Marina Steindor (beide Bündnis 90/Die Grünen) und Hubert Hüppe (CDU).

Die inoffizielle Beleites-Version billigt erneut, was kein deutsches Gesetz vorsieht: den todbringenden Abbruch medizinischer Behandlung bei Kranken, die überhaupt nicht im Sterben liegen. Betroffen von der Regelung wären „bewußtlose oder sonst einwilligungsunfähige Patienten“. Bei ihnen sollen ÄrztInnen nach dem Willen von Beleites lebenserhaltende Maßnahmen abbrechen oder unterlassen dürfen, wenn der „mutmaßliche Wille“ des Patienten gegen eine weitere Behandlung stehe. Als „einwilligungsunfähig“ stufen Juristen zum Beispiel komatöse, demenzkranke, geistig behinderte oder psychisch kranke Menschen ein. Das Problem: Der Begriff „mutmaßlicher Wille“ ist rechtswissenschaftlich nicht eindeutig definiert. Als Anhaltspunkt empfiehlt Beleites eine Formulierung, die sich an ein Einzelfallurteil des Bundesgerichtshofes anlehnt: „Bei der Ermittlung des mutmaßlichen Willens sind sowohl religiöse Überzeugungen und allgemeine Lebenseinstellungen als auch die Gründe, die die Lebenserwartung und die Risiken bleibender Behinderungen sowie Schmerzen betreffen, zu berücksichtigen.“

Geht es nach dem Jenaer Medizinprofessor, müßten künftig Eltern entscheiden, ob Neugeborene mit schwersten Behinderungen leben sollen oder nicht. Sie sollen gar nicht erst mit „außergewöhnlichen technischen Hilfsmitteln“ behandelt werden, wenn Mutter und Vater die tödlich wirkende Unterlassung wünschen. Diese Ermächtigung steht auch im Entwurf von 1997 – „ein Unding“ sei dies, kommentierte seinerzeit Therese Neuer-Miebach von der Bundesvereinigung „Lebenshilfe für Menschen mit geistiger Behinderung“.

Allen PatientInnen sichert Beleites unabhängig von ihrem Gesundheitszustand die sogenannte Basisbetreuung zu. „Ernährung“ zählt der Jenaer Professor dazu nicht – statt dessen garantiert er den Kranken das „Stillen von Hunger und Durst“. Diese Formulierung kann tödlichen Interpretationen Vorschub leisten: Hunger und Durst gelten als Gefühle, die einige MedizinerInnen und JuristInnen nur solchen Menschen zutrauen, die erkennbar bei Bewußtsein sind. Wer voraussetzt, daß im Koma lebende Menschen keine Empfindungen hätten, kann aus dem Beleites-Papier ohne weiteres herauslesen, daß er nicht verpflichtet ist, sie zu ernähren.

Inwieweit der Ausschuß hinter den Vorschlägen seines Vorsitzenden steht, ist ungewiß – den Sachstand öffentlich zu machen, hält die Bundesärztekammer nicht für nötig. Immerhin hatte Beleites im Mai erklärt, daß einige Passagen seines Textes im Ausschuß umstritten seien. Das weitere Vorgehen ließ er offen: Bisher nicht vorgesehen, aber auch nicht ausgeschlossen sei, daß der BÄK-Vorstand den endgültigen Richtlinienentwurf zur öffentlichen Diskussion stellt. Wann die Endfassung vorliegt und beschlossen wird, kann Beleites nicht vorhersagen; fest steht nur, daß sich die Ärztekammerspitze das nächste Mal Mitte August trifft.

Die geplante Richtlinie zum Behandlungsabbruch ist beileibe keine Privatsache der Ärzteschaft. Dies hatte auch der Strafrechtler Hans-Ludwig Schreiber beim Sterbehilfesymposium im Januar sehr deutlich gemacht. BÄK-Richtlinien seien für das staatliche Recht „von hoher mittelbarer Bedeutung“, erläuterte der Göttinger Professor. Denn der Bundesgerichtshof (BGH) ziehe die Ärzterichtlinien als wichtige Interpretationshilfe zu Rate, wenn er Gesetze auslege. Und da der Bundestag zum Thema „Sterbehilfe“ seit Jahren hartnäckig schweigt, seien die hohen Richter auf diesem Gebiet immer mächtiger geworden: Mit seiner Rechtsprechung spiele der BGH, so Schreiber, die Rolle eines „Quasigesetzgebers“.