„Hat Kreuzzugscharakter“

St. Georger Kirche hat einen an der Glocke: Ernst Medecke. Der grüne Anwalt klagt nun gegen den christlichen „Lärm-Terror“  ■ Von Silke Mertins

Wenn die St. Georger Dreieinigkeitskirche ihre Glocken läuten läßt, will sich bei Ernst Medecke einfach kein Gefühl von uriger Geborgenheit und tröstlicher Erinnerung einstellen. 20 Meter Luftlinie trennen seinen Schreibtisch von dem evangelischen Gotteshaus. Holt der Glöckner zum Geläut aus, „dann kipp' ich hier vom Stuhl“. Der christliche „Lärm-Terror“ sei so allumfassend, daß auf der gesamten Etage weder telefoniert noch ins Diktiergerät gesprochen werden könne. „Ich werde in meinem Beruf massiv behindert.“ Ein Gutachten des Bezirks kommt jedoch zu dem Schluß: „Eine besondere Lärmbelästigung ließ sich nicht feststellen.“ Die „leichten Kommunikationsstörungen“ seien „zumutbar“. „Das Gutachten ist tendenziös“, schnaubt Medecke und will klagen.

Pastor Gunter Marweges Argument, die Unterbrechung des Arbeitsalltags durch Glockengeläut sei durchaus gewollt, bringt den Grünen nur noch mehr auf die Palme. „Wenn mir vorgeschrieben werden soll, wann ich mein Diktiergerät aus der Hand zu legen habe, ist das Inquisition“ und „hat Kreuzzugscharakter“. Er müsse außerdem am Wochenende arbeiten. Viele seiner Asyl- und Aus-ländersachen duldeten keinen Aufschub. Zu allem Überfluß werde ja auch unter der Woche gebimmelt wie nichts Gutes. Und wenn es in 800 Jahren noch keine Beschwerde gegeben habe, wie Marwege ihm entgegenhält, könne er nur sagen: „In den ersten 650 Jahren hätte das auch niemand überlebt.“

Er, Medecke, der vor 43 Jahren evangelisch getauft wurde – „das war ohne meine Einwilligung möglich“ – und vor über zwei Jahrzehnten aus der Kirche ausgetreten ist, pocht auf „das Recht der freien Entfaltung der Persönlichkeit“. Religion könne auch im Stillen ausgeübt werden. Er stelle sich ja auch nicht vor das Gotteshaus und übe seine Plädoyers. In jedem Fall sei „so ein Geläut in dieser belästigenden Lautstärke nicht mehr zeitgemäß“. Weniger als 50 Prozent der Bevölkerung hingen dem christlichen Glauben an. Und den Moscheen in St. Georg sei so ein Krach auch nicht gestattet.

Die Dreieinigkeitskirche aber beruft sich auf die „Läuteordnung“. Und Pastorin Julia Rabel kann sich Medeckes „überzogene Aggressivität“ auch nicht recht erklären. „Es gibt so viele echte Probleme, daß mich diese Reaktion traurig stimmt.“ Vielleicht sei es ja so, daß Medecke sich gegenüber den wirklichen Mißständen ohnmächtig fühle und sich deshalb auf die Glocken stürze. Manchen bereite es möglicherweise auch Probleme, wenn sie an existentielle Dinge wie Tod oder Hochzeit erinnert werden, seelsorgt sich die Pastorin. Zwar kämen durchschnittlich nur 30 bis 80 Menschen zum Gottesdienst, doch sie wisse, daß viele beim Klang der Glocken „Geborgenheit und Trost empfinden“. Denn es sei „ein Signal, daß Menschen etwas Großes und Kostbares sind“. Medecke ist hingegen sicher, daß „die Kirche einen an der Glocke hat“.