Der Hirte in den Fängen der Literatur

■ Gute Hirten bei den Christen, romantische Hirten bei den Literaten, zähe Hirten bei den Ethnologen. Je weniger echte Hirten es gibt, desto größer das Interesse der Autoren

Vier Gruppen sind es im wesentlichen, die das Thema „Hirten“ literarisch ausschlachten: die Ethnologen, die Theologen, die Philologen – und einige wenige Praktiker. Wer sich für das Hirtentum in der Praxis interessiert, kann immerhin auf drei Werke zurückgreifen: „Das Recht der Hirten“, „Ungarische Hirtenhunde – einschließlich Pyrenäen-Berghunde“ und „Hirtenleben – Romantik und Realität“. Sein Recht braucht der Hirte, seinen Hund und ein bißchen Romantik.

Wie an dem letzten Titel ersichtlich, ist der Mythos, der von alters her ums Hirtenleben gesponnen wird, weit ergiebiger als die Realität. Von der Antike bis zur Gegenwart reicht die Tradition der Schäferdichtung. Schon bei den Griechen und Römern wurde das ländliche Idyll dem anstrengenden und korrupten Stadtleben gegenübergestellt. Was allerdings nicht weiter verwundert, wenn man bedenkt, daß z.B. Vergils „Bucolica“ zur Zeit eines erbitterten Bürgerkriegs um die Macht in Rom entstand.

In der Renaissance wurde das Thema dankbar wiederaufgenommen. Kaum daß man dem dunklen Mittelalter entronnen war und sich zur Zivilisation zurückgekehrt glaubte, war auch die Sehnsucht nach dem unzivilisierten Idyll wieder da („Bucolicum Carmen“; „Arcadia“). Allerdings nur, um sich zu einer regelrechten Kunstform weiterzuentwickeln: Die höfische Gesellschaft erscheint im Schäferkostüm, der Dichter verliest seine Gedichte, die Wirklichkeit ist ausgeschaltet. Dafür gilt eine große Skala der Gefühle: Klage, Sehnsucht, Einsamkeit, Liebesstreit und folgende Versöhnung, Regungen des Herzens, Seelenlandschaft: „An dem reinsten Frühlingsmorgen / Ging die Schäferin und sang“ usw. Im 19. Jahrhundert hält dann wieder die Realität Einzug. Der sozialkritische Land- oder Bauernroman läßt keine Sentimantalitäten mehr zu.

Aüßerst beliebt sind die Hirten auch bei den Ethnologen. Das Archaisch-Nomadische von Hirtenvölkern ist für europäische Akademiker, seßhaft und zivilisiert wie sie sind, ein idealer Kontrast. Die Beziehung zwischen dem Eigenen und dem Fremden läßt sich hier ideal studieren, am besten an möglichst exotischen Orten in Afrika und Asien: „Die letzten Nomaden. Vom Leben und Überleben der letzten Hirtenvölker Asiens“; „Rinder und Palmen. Die Lebens- und Arbeitsbedingungen der Fulbe im Süden der VR Benin“; „Aus der Seele der Hirten. Sprichwörter und Spruchweisheiten der Somali“.

Daß die Kirche, zumal die katholische, es mit den Hirten hat, ist wohl bekannt. Am Beispiel vom Hirtenjungen David im Alten Testament über die Parabel vom Guten Hirten im Neuen bis hin zu Johannes Paul II, dem Oberhirten der Gegenwart, ist die Wandlung von der konkreten zur metaphorischen Bedeutung gut ersichtlich: „David. Vom Hirten zum König“, „Die Hirtenrede im Kontext des Johannesvangeliums“ und „Hirte oben – Hirte unten. Lebens- und Glaubenserfahrungen“. Damals war das Hirtendasein ein alltägliches. Heute ist die christliche Symbolik bei weitem vertrauter als die Realität auf der Weide.

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