Netzwerke gegen das Vergessen

Gesichter der Großstadt: Die Neuköllner Kulturamtsleiterin Dorothea Kolland hat sich mit Ausstellungen zum Widerstand von Arbeitern in der NS-Zeit einen Namen gemacht  ■ Von Katrin Bettina Müller

Dorothea Kolland war gerade zwei Jahre Leiterin des Kulturamtes Neukölln, da eckte sie zum ersten Mal mit einer Ausstellung über den Widerstand gegen den Nationalsozialismus an. Als Lüge und Fälschung wurde die erstmalige Dokumentation von Zwangsarbeiterlagern in Neukölln gewertet. Die konkreten Strukturen des nationalsozialistischen Terrors zu benennen, verletzte noch 1983 ein Tabu der Westberliner Nachkriegsgeschichte.

Doch auch der Widerstand, an den Kolland erinnerte, paßte nicht ins bisherige Bild, das „Widerstand“ mit den Männern des 20. Juli identifizierte. Kolland fand es „niederschmetternd“, daß sich bis in die 80er Jahre hinein niemand in West-Berlin um den Arbeiterwiderstand gekümmert hatte.

„Die Interessenlage des Milieus war alles andere als eindeutig“, beschreibt sie die Neuköllner Mischung, „da waren diejenigen, die ihre Wohnungen oder Lauben als Treffpunkte zur Verfügung stellten, Postanlaufstellen unterhielten, Abziehapparate verbargen – und diejenigen, die flüchtige Sozialdemokraten, Kommunisten, Juden auf Zeit versteckten.“ Sie wurden „von denen unterstützt, die ,Kriegswirtschaftsverbrechen‘ begingen, indem sie beispielsweise schwarz schlachteten.“

In dieser Durchdringung von krimineller Energie, einfacher Menschlichkeit und politischer Motivation liegt bis heute die Brisanz des Themas. Wie sich gerade aus den sozialen und ökonomischen Problemen dieses Stadtteils eine ganz eigene Stärke entwickelt hat, macht die Geschichte des Widerstandes attraktiv für die Identität eines Bezirks, dem das Image angeblicher Verslumung auch heute wieder um die Ohren gehauen wird.

„Man hat ja nichts tun können“, hörte Dorothea Kolland von den Erwachsenen über die NS-Zeit, als sie in den 50er Jahren in einem westdeutschen Pfarrhaushalt aufwuchs. „Deshalb war ich so unglaublich beeindruckt, daß es viel mehr mutige Menschen gegeben hat, als ich je geahnt habe. Das zählt zu den wenigen Punkten in der deutschen Geschichte dieses Jahrhunderts, die ermutigend sind.“

Netzwerke sind die Leidenschaft der Kulturamtsleiterin: Energien bündeln, Erfahrungen addieren, Verwaltungsaufwand teilen. Das Subjekt ihrer Sätze ist oft ein „wir“. „Für jedes Thema haben wir im Bezirk gesucht, wer aus Bürgerinitiativen, Kirchenvereinen, Künstlergruppen, Geschichtswerkstätten in einem ähnlichen Bereich arbeitet, oder wen man darauf anspitzen kann. Durch Zusammenarbeit entsteht das beste Vertrauensverhältnis.“

Als die promovierte Musikwissenschaftlerin und Soziologin 1981 in Neukölln anfing, verfügte das Kulturamt gerade mal über zwei Sekretärinnen, zwei Putzfrauen für den baupolizeilich gesperrten Saalbau, einen Hausmeister und ein Heimatmuseum voller Zinnfiguren. Für Ausstellungen gab es lediglich den Rathausflur. Heute arbeitet die „Chefin“ mit 19 festen Mitarbeitern und Kulturwissenschaftlern, die auf ABM-Basis engagiert werden. Sie hat die Galerien im Körnerpark (1983) und im Saalbau (1990) eröffnet, die Konzertreihe „Sommer im Park“ eingeführt, Initiativen wie dem Puppentheatermuseum und der Neuköllner Oper zum Fortbestehen verholfen.

Vor allem aber erweckte sie zusammen mit dem Politikwissenschaftler Udo Gößwald das Heimatmuseum aus seinem Dornröschenschlaf. Es hat seither immer wieder Bewohner des Bezirks zur Mitarbeit bei seinen Recherchen über „Spuren jüdischen Lebens“, die Geschichte der böhmischen Einwanderer, über Artisten, Reformschulen und die Filmindustrie aktiviert.

Auf dieser Basis wuchs als Nebenprodukt auch das Wissen über den Widerstand. Lange war die „Widerstandskiste“ tatsächlich ein Umzugskarton, in dem das Material kontinuierlich zunahm. 1988 wurde ein Gedenktafelprogramm beschlossen, inzwischen sind 10 Tafeln angebracht. Seit aber die Archive im Osten der Stadt zugänglich sind, hat die Forschung einen „unglaublichen Schritt“ gemacht. 1994/95 setzte Kolland, wieder auf Basis der Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen, den Historiker Reinhard Scherer auf das Thema an.

„Damals wußten wir von 100 Todesurteilen der nationalsozialistischen Justiz, heute können wir 300 Verurteilungen von Neuköllnern belegen“, sagt Kolland. Die Datei der „Widerständigen“ umfaßt inzwischen 1.700 Personen. Erst jetzt werden die Akten der Frauen zugänglich, die in einer Strafanstalt im heute polnischen Niederschlesien einsaßen.

Keine belegbaren Zahlen gibt es zu den Juden, die ohne Prozeß ermordet wurden. Dieses Wissen um nicht mehr aufzufüllende Lücken lasse die Form einer zentralen Gedenktafel im Rathaus als falsche Festschreibung erscheinen, meint Kolland.

So entstand die Idee eines Gedenk-Terminals. Die neue Daten- Technik soll nicht nur genutzt werden, um eine Fortsetzung der Forschung zu ermöglichen, sondern auch, um zu Fragen an die Geschichte zu ermutigen. „Was passierte in meiner Straße? Wie lebten die, die geholfen haben?“ Geschichten von Zeitzeugen, die noch auf Video dokumentiert sind, können eingebaut werden. Die Nahsicht soll den ehrfurchtsvollen Abstand ablösen.

„Am Programm wird jetzt gefummelt“, erzählt Kolland. Vor einem Jahr wurden die Recherchen wieder aufgenommen. Bei der Bosch-Stiftung läuft ein Antrag, die Datenerfassung zu finanzieren. Geschichte bleibt beweglich in Neukölln, museale Erstarrung ist nicht zu befürchten.