Who the fuck is Elvis?

■ Worum Jerry Lee Lewis sich noch vergeblich bemühte, gelang in der Stadthalle anschließend Little Richard und Chuck Berry: Menschen um die 50 vor Begeisterung von den Stühlen zu reißen

Natürlich hat der Mann eine gewaltige Meise. Aber in diesem Business liegt nur ein winziges Be-Bop-A-Lula zwischen Wahnsinn und Genie. „Ich bin der wunderschöne Little Richard“, ließ Richard Wayne Penniman gleich zu Beginn keine Zweifel daran, daß er sich mindestens für unwiderstehlich hält. Und auch in den folgenden 80 Minuten bemühte sich der selbsternannte „Architekt des Rock'n'Roll“ und hemmungslose Exzentriker nicht, sich wie ein normaler älterer Herr an der Schwelle zur Pensionsgrenze zu verhalten.

Ob am Bühnenrand in Jesuspose oder immer wieder im selbstverliebten Blick auf sein eigenes Foto versunken, ob in den angedeuteten Striptease-Einlagen oder in der permanenten Aufforderung an die ZuschauerInnen, ihm gefälligst Ovationen entgegenzubringen: Little Richards Konzert am Sonntag in der Stadthalle war ein eindrucksvoller Beleg dafür, daß – solange er noch auftritt – die Anläße nicht ausgehen werden, um sich rhythmisch zuckend seines Schlüpfers zu entledigen und ihn blöd kreischend dem sexiest man alive mit Inbrunst an den Kopf zu schleudern.

Allein: Weder während des eher müden Auftritts von Jerry Lee Lewis, noch während der fulminanten Sets von Little Richard oder Chuck Berry wechselte die anwesende Unterwäsche ihren Besitzer. Ob es daran lag, daß die Konzertreihe im Vorfeld als „Tournee der Könige der Herzschrittmacher“ bezeichnet worden war – mithin die anvisierte Zielgruppe mittlerweile eher an Inkontinenz als an einem Überfluß an Intimwäsche litt? In einem Bremer Anzeigenblättchen war im Vorfeld gar zu lesen, „alle drei Musikveteranen sind älter als 64 Jahre, Chuck Berry sogar 72 Jahre“. Womit, wäre diese Rechnung korrekt, Berry schon stramm auf die hundert zuging, als er Mitte der 50er Jahre mit seinem ersten Hit „Maybelline“ den Grundstein zum Status einer Rock'n'Roll-Legende legte.

Andererseits: Was liegt näher, als über das Alter zu schreiben, wenn die Geburtshelfer der aufregendsten Musik unseres Jahrhunderts treffend als Rentner bezeichnet werden können und, zumindest wenn sie Little Richard heißen, immer noch jede Frau „Darling“ nennen müssen, weil Rock'n'Roller das seit 40 Jahren tun? Nun, man könnte zum Beispiel schreiben, daß Little Richards Auftritt ein Vorgeschmack auf den Rock'n'Roll des 21. Jahrhunderts war. Unterstützt von einer achtköpfigen Band, in der vor allem die beiden Drummer Derrick Martin und Mark Holland jeden Zweifel an der großartigen Qualität des Konzerts niederdroschen, interpretierte Richard Hits wie „Lucille“, „Tutti Frutti“ oder „Blueberry Hill“ mit einer Begeisterung, als hätte er die Stücke nie zuvor ins Mikro gebrüllt.

„Good Golly Miss Molly“ gefiel dem Meister gar so gut, daß er gleich zwei verschiedene Versionen hintereinander spielte. Und auch wenn die Hüftsteifheit Little Richards unübersehbar war, mußten die Fans auf die Prise Sex nicht verzichten. Zwei gutgebaute männliche Sahneschnittchen wackelten in verboten engen Höschen über die Bühne und demonstrierten augenfällig, daß exzessiver Rock'n'Roll-Tanz zu beneidenswert prallen Pobacken führt. Dagegen fiel die Bühnenshow der beiden anderen Herren deutlich ab. Und dennoch lagen Welten zwischen ihnen. Jerry Lee Lewis langweilte mit einem runtergenudelten Set zwischen Country- und Rock'n'Roll-Stücken im Rückwärtsgang. Das dritte Stück klang wie das erste, das vierte wie das zweite, und das sechste knüpfte wieder beim ersten an. Der Versuch, sein Piano ungestüm zu zerrrupfen, schlug am Ende ebenso fehl wie die Demonstration ungebrochener Jugendlichkeit durch zweifache Plazierung der Pobacken auf der Tastatur.

Der Älteste des Trios hingegen krönte die Legendenschau mit einem wunderschön altmodischen Konzert. Keine bemerkenswerten Effekte, keine demonstrativen Griffe in den Schritt zu den great balls of fire. Einfach nur Rock'n'Roll auf höchstem Niveau. Zwar sah Chuck Berry in seinem Seemannsdress mit Kapitänsmütze aus wie Hans Albers in schwarz. Aber ein Welthit nach dem anderen – von „Roll over Beethoven“ über „Sweet little Sixteen“ bis „Carol“ war alles zu hören – verstreute jede gemütliche Altherrenseemannsassoziation. Und als Berry zum Schluß, umringt von ausgelassen tanzenden Fans eine kleine Ewigkeit lang via erdigem Solo allen Epigonen seines unverwechselbaren Gitarrenstils in Erinnerung rief, wer der wahre King of Rock'n'Roll ist, fühlten sich die zahlreichen anwesenden glücklichen Fifty-somethings für Minuten wieder wie jugendliche 49. Auf jeden Fall too young to die. Franco Zotta

Die beiden Little Richard-Fotos stammen vom Veranstalter