Arbeit am Lebensgefühl

Die Jugend rockt das Haus: Mit Shakespeares „Hamlet“ unter der Regie des Litauers Eimuntas Nekrošius ging in Braunschweig das Theaterformen-Festival zu Ende  ■ Von Petra Kohse

Es gibt wenig Licht, viel Eis und hin und wieder Feuer. Frauen tanzen, Männer tragen Strickpullis, sind wütend und heulen wie die Wölfe. Lange und heftig wird off stage in ein Mikrofon geatmet und geflüstert, und wenn sich nach vier Stunden die Nebel on stage ein wenig lichten, hat sich der Zuschauerraum dramatisch geleert.

Als letztes Gastspiel des Festivals Theaterformen erlebte am Freitag ein litauischer „Hamlet“ in Braunschweig seine Deutschlandpremiere. Der 46jährige Regisseur Eimuntas Nekrošius hat inszeniert, ein Mann, der nicht nur der einzige litauische Theaterkünstler ist, den man in Westeuropa kennt, sondern auch im eigenen Lande als der Beste gilt: Soeben wurde er zum wiederholten Mal zum Regisseur des Jahres gewählt sowie in Anerkennung seiner Arbeiten seit 1994 mit dem Nationalpreis bestückt.

Bei seinem „Hamlet“ handelt es sich um eine deutsch-italienisch-litauisch-schweizerische Koproduktion, die letztes Jahr im Rahmen des internationalen litauischen Theaterfestivals Life herauskam, Nekrošius ist dort Hausregisseur. All diese nationale Ehre und internationale Vernetzung sieht man der Inszenierung aber nicht an. Sie erstaunt im Gegenteil mit einer fast ratlos offenen Ästhetik, die mal rebellisch wirkt, dann wieder depressiv.

Den Hamlet spielt ein pummeliger Blonder mit Ananasfrisur: der litauische Rockstar Andrius Mamontovas. Schauspielerisch beileibe kein Genie, sondern bloß zum jeweils richtigen Zeitpunkt in die jeweils passende Haltung fallend, hat er trotzdem das Charisma eines melancholischen Egozentrikers, das zur Rolle ausgezeichnet paßt. Dann aber posiert er wieder in eigener Sache und läßt ein dumpf-kehliges Grollen hören, das im wirklichen Leben litauische Mädchen in Zustände versetzen mag, hier aber merkwürdig formlos im Raume hängt. Ganz ungeniert schmust das Souveräne mit der Peinlichkeit.

Die Bühne ist tief und leer. Pudriger Nieselregen wird von oben schwungvoll in Lichtsäulen geschüttet, als Kronleuchter warnt blitzend ein Sägeblatt. Ursuppig kalt und naß ist es am dänischen Hof, was die Menschen in archaischer Wildheit hält. Von zweifarbigen Strickpullovern, die ihnen um die Knie schlottern, nur wenig behindert, setzen alle in großen Sprüngen über die Bühne, schliddern auf dem Boden, rufen statt zu sprechen, rempeln sich an und küssen sich zu Glockengeläute oder Lautenklang dann wieder Füße und Hände. Hysterische Exaltationen, die in ruhige Sequenzen übergehen, als würden alle plötzlich winters am Strand stehen und Eisschollen in der Ostsee zählen.

Eis. In einem Eisblock überreicht der Geist von Hamlets Vater dem Sohn ein Messer. Später wird ein Leuchter mit Eiskugeln über das Sägeblatt gehängt. Darunter steht Hamlet im papiernen Hemd, als er den Text über Sein oder Nichtsein spricht. Eis – ein Element vergangener und zukünftiger, vielleicht aber auch gar keiner Hoffnung. Auf Bilder legt Nekrošius wert, die Geschichte kann der Zuschauer nachlesen.

Hamlet als Mamakind mit heruntergelassenen Hosen, dann mit Ophelia pubertär über den Boden rollend. König und Königin auf Stühlen aus Stahl, einander gegenüber. Oder riesige Kelche mit Wasser oder goldener Flüssigkeit leerend, die das fette Herrscherlachen irre glänzen läßt. Und Ophelia, verwirrt und vom Hofstaat in die Enge getrieben, wie sie umfällt und stirbt. Woraufhin die Wanderschauspieler auf Papprollen herantrippeln und eine mit klarer Stimme jubiliert. Herzzerreißende Schönheit wechselt mit kalter Probenatmosphäre, kippt ins Kunstgewerbe und schaukelt sich im hysterisch Komödiantischen ein. Die Wanderschauspieler schimpfen wie Sittiche und bekommen Tücher über den Kopf gehängt, sie krächzen wie Raben und flattern davon.

Daß Hamlet ganz jung sei und noch an seinen Eltern hänge, ist die eine, vielleicht die einzige Erläuterung, die Nekrošius zu seiner Arbeit gibt. Daher die Besetzung des narzißtischen Rockschmollers. Ansonsten improvisiert der Regisseur über die Möglichkeit. Wie er in der Theaterschrift Nr. 12 sagt, mag er an seinem „Hamlet“ besonders, daß keine Szene eine klare Aussage hat. Auch gibt es zwei Pausen, nach denen die Inszenierung irgendwie mit neuem Schwung neu ansetzt, obwohl die Handlung im Grunde weitergeht.

Dieses Irgendwie mag die tiefere Idee des Ganzen sein. Arbeit am Lebensgefühl – am baltischen? Früher habe er wie alle anderen gedacht, nach dem Kommunismus käme die Freiheit, sagt Nekrošius. Jetzt aber habe sich nichts geändert, außer daß er Camel rauche. Auch in Rußland genießt dieser „Hamlet“ in litauischer Sprache Kultstatus. „In ein Theater, das nur tausend Zuschauer faßt, haben sich zweitausend Leute hineingequetscht“, sagte Andrius Mamontovas der Braunschweiger Zeitung.

Am Tag nach der Premiere stimmt einen diese Information mit sofortiger Wirkung nachdenklich. Warum wurde in Braunschweig das Theater immer leerer? Werden naßkalte Versuche über die Möglichkeit im Theater überflüssig, wenn nebenan im Freibad bei strömendem Regen ein Marathonschwimmen stattfindet? Ist die völlig unzynische jugendkulturelle Rumhängdramaturgie bei Nekrošius nicht genausogut wie sie es in einer Inszenierung von Leander Haußmann wäre? Wäre man selbst lieber schwimmen gegangen? Was ist uns Litauen, was sind wir ihm? Wieviel theatralisches Sein kann ein Zuschauer auf ungewissen Schultern tragen? Und warum? Herbstliche Fragen – willkommen in der Sommerpause.