Schriften zu Zeitschriften
: Intertextualität pur

■ Ein Atlas moderner Weltliteratur: Das „Schreibheft“ ist als Reprint erschienen

Die Welterfahrung des Peter Kien, dem tragischen Helden aus Elias Canettis Roman „Die Blendung“, erschöpft sich darin, jeden Tag die hohen Räume seiner Bibliothek zu durchmessen, die aus 25.000 Bänden besteht und in der ihn, wie es heißt, „kein überflüssiges Möbelstück, kein überflüssiger Mensch von ernsthaften Gedanken ablenkte“. Peter Kien hat die „Welt im Kopf“, und wenn ihn Stimmen erreichen, dann sind es die Gespräche, die in und zwischen den Büchern stattfinden.

Zu den heimlichen Erben dieser Bücherbesessenheit gehören auch Norbert Wehr und Hermann Wallmann, Literatur- Pioniere und Essayisten, die seit nunmehr 15 Jahren gemeinsam die Literaturzeitschrift Schreibheft herausgeben und in dieser Zeit die noch unerschlossenen Kontinente der modernen Weltliteratur kartographiert und in mittlerweile 50 Heften einen Atlas der literarischen Moderne zusammengestellt haben. Über all ihrer Bibliomanie haben die Herausgeber glücklicherweise eine gewisse Bodenhaftung nicht verloren, die sie immun macht gegen den Kienschen Eskapismus. Bei der Gründung im Jahr 1977 war indes noch nicht abzusehen, daß aus dem bieder, ja dilettantisch gefertigten Din-A5-Heftchen jemals eine bedeutende Zeitschrift werden könnte. Fünf Jahre lang war das Schreibheft, damals noch gemeinsam mit Norbert Wehr und Ulrich Homann herausgegeben, ein unauffälliges Heimwerkerprodukt für Dichterfreunde aus dem Ruhrgebiet. Erst ab 1980/81 trennte man sich von den literarischen Amateuren; Norbert Wehr überwarf sich mit Ulrich Homann und gab ab Heft 20 die Zeitschrift im neu gegründeten Rigodon-Verlag heraus.

Zu dem schweigsamen Einzelgänger aus Essen, der ab Heft 16 einen literarischen Kurswechsel fern von bravem Regionalismus einleitete, gesellte sich bald der Büchernarr Hermann Wallmann aus Münster, ein Mann von geradezu furchterregender Belesenheit, der neue literarische Fixsterne für das Schreibheft entdeckte. Zu literarischen Leitfiguren wurden die großen Außenseiter und Exzentriker der Moderne ernannt: Louis-Ferdinand Céline, Djuna Barnes, Thomas Pynchon und – last, not least – Vladimir Nabokov. So vermeldet Hermann Wallmann schon in der Nr. 22 des Schreibhefts im Blick auf Nabokov eine ästhetische Epiphanie im Geiste des Peter Kien: „Nun ging mir plötzlich auf, daß die Bücher nicht selten von anderen Büchern sprechen, ja, daß es mitunter so ist, als sprächen sie miteinander.“

Einmal in den Bann der Intertextualität geraten, umkreisten die Schreibheft-Editoren immer wieder die Nabokovianischen „Sonnensysteme“ der Literatur. In der zuletzt erschienenen Jubiläumsausgabe des Schreibhefts (Nr. 50) hat Michael Maar eine auf den ersten Blick ungewöhnliche Trias zum literarischen Gruppenbild zusammengeführt: Jorge Luis Borges, Vladimir Nabokov und – den englischen Schriftsteller und konservativen Metaphysiker Gilbert Keith Chesterton, bekannt geworden leider nur als Verfasser der „Pater Brown“- Geschichte.

Das literaturarchäologische „work in progress“ des Duos Wehr & Wallmann ist nun endgültig zum Klassiker nobilitiert worden: Der Verlag Zweitausendeins hat die großformatigen schwarzen Schreibhefte aus den letzten 15 Jahren, also die Nummern 22 bis 50, in fünf hellgrauen Leinenbänden im Lexikonformat als Reprint vorgelegt – ein 5.500 Seiten schwerer Grenzgang auf lange unzugänglichem Terrain der Weltliteratur; Essays, Dossiers und literaturwissenschaftliche Lektionen zu den avanciertesten Schriftstellern unseres Jahrhunderts.

Versehen mit einem verläßlichen Register, läßt sich der Reprint als „lebendiges Nachschlagwerk“ (N. Wehr) nutzen. Wer darin blättert, gerät immer wieder ins Staunen über die antizipatorischen Fähigkeiten der Schreibheft-Macher. Über Autoren wie William Gaddis, Cees Nooteboom, Georges Perec oder Inger Christensen wurden hier schon gründlichste Dossiers angelegt, als man in Deutschland noch nicht mal die Namen der Autoren richtig buchstabieren konnte.

Mit Entdeckungen und Wiederentdeckungen haben Wehr & Wallmann eine neue Topographie der literarischen Moderne entworfen. Das begann 1982/83 mit den Recherchen zu Louis-Ferdinand Céline und seinem bis heute mangelhaft übersetzten Opus magnum „Reise ans Ende der Nacht“, setzte sich fort in den literaturhistorischen Tiefbohrungen zu Malcolm Lowry (Nr. 23), Paul Bowles und Robert Coover (Nr. 26 und 27), und dehnte sich ab Heft 29 immer mehr aus zu materialreichen Dossiers über die literarische Postmoderne in den USA und über die Speerspitzen der Avantgarde in Frankreich und Rußland, um in weitem Bogen zu den Fixsternen Nabokov und Borges zurückzukehren.

Wer sich mit den Elementartexten der zeitgenössischen Moderne vertraut machen will, der wird von diesem Schreibheft- Reprint bestens versorgt. Allerdings gibt es dabei auch einige Durststrecken zu überstehen. In manchen Dossiers dominiert ein spröder Akademismus, der sich weder um Lesbarkeit noch um stilistische Eleganz bekümmert. Das „kombinatorische Verfahren“, die „Selbstreflexivität und Rekursivität“, der „autopoetische Trip“...: All diese selbstreferentiellen Verschlingungen gehören eben auch, so Annette Brockhoff in ihrem Nachwort zum Reprint, zu den heiligen Literaturprinzipien von Wehr & Wallmann: „Intertextualität pur“.

Mit Blick auf den Schreibheft-Reprint kann man aber ein Borges-Diktum zu Chesterton paraphrasieren: Die Literatur, so Borges, ist eine der Formen des Glücks; vielleicht hat uns keine Zeitschrift so viele glückliche, zumindest aber lehrreiche Stunden bereitet wie das Schreibheft. Michael Braun

„Schreibheft 1983–1997“. Vollständiger Reprint in fünf Bänden im Originalformat 25 x 17 cm. Verlag Zweitausendeins; zirka 5.500 Seiten, 195 DM