Kostenloses Kilometerfressen

■ Gestern lud die Bahn AG zum kostenlosen Marathon. Über 200 Teilnehmer versuchten, in 12 Stunden so viele Bahnkilometer wie möglich abzufahren. Einige nutzten das einmalige Angebot zum Trip ins Grüne

Gestern, circa 33 Grad Celsius im Schatten und zweihundert Bahnreisende auf dem Dauer- Trip. Zwölf Stunden Volldröhnung. „Warum tun Sie sich das an?“ fragt irritiert eine Platznachbarin die Bahnfans im Regionalexpreß von Berlin in Richtung Wittenberge. Doch eine plausible Erklärung, warum bei der Hitze knapp hundert Teams, bestehend aus Altersrentnern, Jungstudentinnen und -studenten, Familien plus Kinderanhang von morgens um sechs bis abends um sechs ein Wettrennen auf allen Bahn-Regionalstrecken Berlins und Brandenburgs veranstalten, bleibt aus.

Offiziell hatte Hans Leister, Regionalchef der Deutschen Bahn, zum Kilometerfressen eingeladen. Gewinner sei, erklärte Leister tags zuvor die Spielregeln, wer jede Strecke nur einmal befährt und beim Einlauf abends am Alexanderplatz die meisten Kilometer zurückgelegt hat. Angesichts der massiven Kritik, die die Bahn wegen ihrer geplanten Streichung vieler Interregio-Verbindungen zur Zeit einstecken muß, kommt der Wettbewerb als PR-Gag gelegen.

Das Team „Greatest Lovers don't need big cars“, wie auch die „Train Surfer“, „Die Überdurchschnittlichen“ und die „Zugvögel“ waren gestern von den Medien umlagert. Doch weniger die Fahrten kreuz und quer durch Berlin- Brandenburg als die Tripdetails erwiesen sich als heiter. Etwa der Heimorgel-Sound aus dem Zuglautsprecher „... die Berliner Luft, Luft, Luft ...“ beim Überqueren der Landesgrenze zu Brandenburg. Aber noch schärfer war das elektronisch geflötete „Sie erreichen jetzt den Bahnhof ... knarx“ – bis der Zugführer schließlich rauchig-sonor eingriff und „... Glöööwen“ ins Mikro räusperte, was wiederum die „Lovers“ augenblicklich zu schallendem Gelächter nötigt. „Glöwen, noch zwei Stationen, dann umsteigen“, stellt Lovers-Teamer Axel sachlich fest. Gegen 5.19 Uhr war sein Team vom Zoo zum Startpunkt im brandenburgischen Neustadt/Dosse aufgebrochen. Zwei Tage hatten sie Strecken, Umsteigestationen und Zugverspätungen berechnet: „Wir sind Bahnfans, aber Hauptsache, wir haben heute Spaß“, beschrieb Anja ihre Motivation, zwölf Stunden für ein Reklameevent der Bahn zu opfern.

Der Trip hatte sich bei den Bahnbediensteten wohl nicht herumgesprochen: „Was ist denn das hier?“ bestaunt die Schaffnerin die „Gästekarte“ der Teilnehmer. Fragend schaut sie auf den Zettel und gibt sich schließlich mit den Worten: „Aber sieht ja sehr echt aus, na is gut“ zufrieden. Anschließend ein Zugwechsel. Hektik auf den Treppen. „Wir haben Verspätung“, treibt Axel an. Gelassen bleibt dagegen der mit 71 Jahren älteste Teilnehmer des Wettbewerbs: „Ist doch schön, hier im Zug Bücher zu lesen“, beschreibt Günter Herting. Er habe die Bahn schon immer gemocht, „zum rausgucken, ich bin Rentner, ich hab so viel Zeit“.

Zuvor hatte die Bahn instruiert: „Die Kunst besteht auch nicht nur darin, sich möglichst schnelle Züge auszusuchen, sondern die günstigsten Umsteigemöglichkeiten.“ Unweigerlich fallen die Parallelen zum gerade angelaufenen und dauerausverkauften Film „Zugvögel“ ins Auge. Doch die Bahn dementiert: „Wir haben das nicht abgeschaut“, widersprach Regionalbahnchef Leister gestern mittag.

Die Bahn wird, so Regionalchef Leister, nach Abschluß des Wettbewerbs die Daten der einzelnen Fahrten auswerten und für ein Optimierungskonzept der Strecken verwenden. Kritik übte hingegen der Deutsche Bahnkunden-Verband in Berlin: „Aktionismus soll von Problemen ablenken“, wetterte der Verband. Falsche Haltestellen-Stopps, falsche Bahnsteighöhen und Taktfrequenzen müßten behoben werden, bevor Hans Leister „zu einer populistisch angelegten Wettfahrt“ einladen dürfe.

Ganz populistisch absolvierte das Lovers-Team bereits bis 10 Uhr über 200 Kilometer, 580 weitere wollten sie bis zum Einlauf am Alex zurücklegen. Teamer Axel ist überzeugt: „Die Regionalbahn ist sehr gut konzipiert. Bei besseren Preisen würden noch viel mehr Leute auf die Bahn umsteigen.“ Das sahen andere Teilnehmer genauso: Sie nutzen das einmalige kostenlose Angebot und fuhren ganz ohne Kilometerstreß einfach ins Grüne. Peter Sennekamp