Studenten des Grauens Von Michael Ringel

Bitte fahren Sie momentan in Berlin nicht mit dem Bus 129 Richtung Kreuzberg. Offenbar sind bereits Monate vor dem Wintersemester die ersten neuen Studenten in der Hauptstadt des Wissens angekommen. Auf der Suche nach dem real kreuzberg life 'n' feeling pirschen sie durch die Oranienstraße. Oder sitzen im Bus hinter Ihnen. Stammen aus Recklinghausen, tragen eine Schifferkrause ums Kinn und sind furzdumm. Wie die beiden Studententrottel, deren leiernde Stimmen auch schon loslegen.

„Ich könnte nicht mehr bei meinen Eltern leben.“

„Bei deinen Eltern?“

„Sie leben so einsam in Recklinghausen.“

„In Recklinghausen?“

„Aber wenn ich dann heimfahre, und an der Ecke taucht die Raiffeisenbank auf, dann fühle ich mich schon zu Hause.“

„Hast du nicht im Grundstudium zu Hause gewohnt?“

„Nein, in Bielefeld. Ich brauche ein gastoffenes Haus.“

„In Bielefeld?“

„Nein, in Berlin. In Berlin bewegt sich was. Hier kann ich leben.“

Eine kurze Schwerdenkerpause. Ich beiße in das Nackenpolster des Vordersitzes. Schon beugt sich Recklinghausen nach vorn, verschränkt die Arme auf meiner Lehne und legt den heißgelaufenen Kopf noch dichter an mein Ohr.

„Was wohl unser alter Kreis macht?“

„Von einer kann ich es dir sagen.“

„Von Miriam?“

„Nein, von Miriam.“

Nun bin selbst ich verwirrt, während sich die Studenten des Grauens einen Moment anschweigen. Was die wohl studieren? Auf den ersten Blick Chemie, nein Mathematik. Obwohl..., dann wären sie klüger. Also doch Geisteswissenschaftler. Philosophie? Hmmm... Wer beult seine Jackentaschen mit Romanen aus? Romanisten. Quatsch! Zwei verdrückte Germanistikstudenten. Ja! Das ist es. Und schon geht die Hirnreise weiter.

„Miriam?“

„Nein, Katharina.“

„Katharina?“

„Macht jetzt Jura.“

„Wieso Jura?“

„Eben Jura.“

Die nächste Haltestelle ist erreicht. Doch vorerst gibt es kein Entrinnen. Schifferkrause wartet auf seinen Einsatz.

„Wie gern säße ich mal wieder in der alten Runde.“

„Bei Thomas?“

„Einen Tee trinken.“

„Und einen Salat essen.“

„Und klönen.

„Bei Thomas bin ich nicht gern.“

„Bei Thomas?“

Flehend sehe ich zu dem Pitbull- Besitzer hinüber: Bitte, können Sie mich nicht erschießen...

„Bei Thomas wird geraucht.“

„Es gibt keinen Abzug.“

„Und am Klo keine Tür.“

„Und keinen Sichtschutz.“

„Ohne Sichtschutz könnte ich nicht leben.“

„Thomas ist halt mehr existentialistisch.“

Erschöpft lehne ich am Haltehäuschen. Arme Volltrottel. Studieren ein paar Semester und werden noch dümmer. Irgendwann wirft sie jemand in die Wirklichkeit. Dann gehen sie zu einer Werbeagentur nach Bielefeld und sind verantwortlich für die Autowerbung im Fernsehen. Denn nur ein Sichtschutz verspricht ein garantiert existenzfreies Leben. Meiden Sie in nächster Zeit bitte die Linie 129 Richtung Kreuzberg.