Das Märtyrertum erreicht Chinas Bevölkerung nicht

■ Die chinesische KP-Führung sortiert die Demokratiebewegung nach dem Besuch von US-Präsident Clinton. Die einen Dissidenten werden verhaftet, die anderen still empfangen

Peking (taz) – Die Washington Post sprach von einer „kühnen Herausforderung“, die Süddeutsche Zeitung gar von einem „historischen Wagnis“, als ein Dutzend chinesischer Dissidenten während des China-Besuchs von US-Präsident Clinton den Versuch wagten, in China eine Partei zu gründen. Wie schon früher bei offener politischer Opposition griffen die Häscher des kommunistischen Regimes auch nach Clintons Abreise zu: Elf Gründer der „Chinesischen Demokratischen Partei“ (CDP) wurden festgenommen. Zwar wurden sechs kurz darauf wieder freigelassen, doch den fünf anderen droht nun der Prozeß und eine Verurteilung zur berüchtigten „Umerziehung im Arbeitslager“. Entsprechend laut sind die Proteste von Dissidenten sowie von westlichen Medien und Regierungen.

Die Ereignisse erneuern den Streit um die Strategie der Opposition. Erst am Montag bedankte sich der ehemalige Mitarbeiter des nach der Studentenrevolte 1989 geschaßten KP-Generalsekretärs Zhao Ziyang, der in den USA lebende Chen Yizi, für das wohlwollende Verhalten der chinesischen Behörden. Sie hatten ihm unlängst die Reise nach China zur Beerdigung seiner Mutter gestattet. „Die Rehabilitation der Bewegung vom 4. Juni (Tag des Tiananmen-Massakers 1989, d.Red.) ist nur eine Frage der Zeit“, sagte Chen anschließend. Das Problem sei vielmehr, eine Lösung herbeizuführen, ohne neue Feindseligkeiten entstehen zu lassen. Chen, der 1989 zu den meistgesuchten Teilnehmern der Proteste zählte und seither seine KP-Kritik nicht zurückgenommen hat, vertritt heute gleichwohl eine ganz andere Strategie als die Parteigründer der CDP. Letzteren ging es darum, die Unrechtsnatur des Pekinger Regimes nach dem auch im Westen gefeierten Clinton-Besuch erneut unter Beweis zu stellen. Sie erzielten damit die erhofften Reaktionen westlicher Medien und Regierungen. Von denen hatten einige im Eifer der erfolgreichen Clinton- Tour schon vorschnell angenommen, die Kommunisten in Peking hätten sich grundsätzlich geändert. Allerdings wirken Aktionen wie die Parteigründung, die im Westen für Schlagzeilen sorgen, kaum nach China hinein. Der radikalen Demokratiebewegung fehlt im Land jegliche Basis, die für eine nennenswerte Verbreitung ihrer Ideen und Proteste sorgen könnte. Genau das kritisieren Oppositionelle wie Chen Yizi, die noch immer auf einen Dialog mit den Kommunisten hoffen oder zumindest meinen, die Mehrheit ihrer Mitbürger nicht durch offene Konfrontation zum Regime erreichen zu können.

Der Streit trennt auch die beiden bekanntesten chinesischen Exil-Dissidenten: Wei Jingsheng, der nach 17 Jahren Haft im vergangenen Jahr in die USA ausreisen durfte, stellte sich zuletzt auf die Seite der Republikaner im US- Kongreß, die Clintons China-Besuch als Ausverkauf amerikanischer Grundwerte geißelten. Ganz anders der Führer der 89er Revolte Wang Dan, der nach Jahren im Gefängnis im April seine Freiheit im Exil zurückerhielt: Er unterstützt demonstrativ Clinton, weil er die demokratische Überzeugungskraft eines US-Präsidenten auf Chinas Bevölkerung höher einschätzt als die eigene.

Hinter der Divergenz zwischen Wei und Wang steht der Tabustreit um das Märtyrertum. Wei war immer bereit, sich selbst zu opfern. So sahen es auch die CDP-Gründer, die mit Festnahme und Verurteilung rechnen mußten. Doch andere sind nicht bereit, diesen Heldenweg zu gehen. Verständlicherweise: Eine Liste von amnesty international belegt, daß es an politisch motivierten Verhaftungen in jüngster Zeit nicht mangelt. Vor allem unabhängige Gewerkschaftsaktivisten wurden zum Ziel der Polizei. In China scheint derzeit der Wunsch nach unabhängigen Gewerkschaften ausgeprägter zu sein als allgemeine Forderungen nach mehr Demokratie. Georg Blume