Meine Straße (Teil 2)
: Die Eisenbahnstraße

■ Der Name ist geblieben – und Erinnerungen

Meine Straße gehört Paul Pissarius. Viele Male hat er mir erzählt, wie er nachts das kurze Stück von seinem Haus bis zur Köpenicker gegangen ist. Zusammen mit dem Jungen. Den Toten hatten sie auf der Karre. Er erzählte, wie sie die Straße überquerten mit der Leiche, wie alles dunkel war. Sie konnten kein Licht machen. Auch nicht, als sie den Toten in die Spree geworfen haben, oben bei der Brommy-Brücke. Der Junge mußte helfen. Die Brücke gibt es nicht mehr. Jedesmal, wenn er mich sah, dieselbe Geschichte: Ein Mann und ein Junge werfen in der verdunkelten Stadt einen Toten in den Fluß. Atemlos. Stakkato. Eindringlich versuchte er, mir das Unglaubliche beizubringen. Immer in der Angst, ich könnte davonlaufen, diese Geschichte nicht hören wollen. Pissarius war da schon über 90. Meist traf ich ihn beim Briefkasten oder beim Kohlenholen. Er hat mir seine Wohnung gezeigt. Das Zimmer, wo er und seine Frau zweieinhalb Jahre die Juden versteckt hatten. Den Mann, die Frau, den Sohn. Ein kleiner Raum. Zweieinhalb Jahre. Parterre. Fenster auf DeTeWe. Ich konnte es nicht glauben. Zweieinhalb Jahre: Winter. Sommer. Winter. Sommer. Winter. In der Eisenbahnstraße. Unpassend benannt zwischen all den Schlesischen Träumen und Offizieren: Görlitz oder Moskau, Wrangel oder Falckenstein. Auf der anderen Seite der Spree ist der Ostbahnhof. Eine Kohlenlore fuhr einmal die Eisenbahnstraße entlang. Der Name ist geblieben. Mehr nicht. Und Pissarius, der den Weg zur Brücke ging. Der Mann – sein ehemaliger Arbeitgeber übrigens – war gestorben. „Meine Frau sagte immer ,Auf unser Haus fällt keine Bombe‘, deshalb konnten wir sie verstecken.“ Die Bomben sind auf die andere Seite der Eisenbahnstraße gefallen. Das ganze Karree weg. Neu aufgebaut nach dem Krieg. „Eigentlich hatten die Bomben DeTeWe gegolten, dort war eine Waffenfabrik.“ Dies sagte eine andere Nachbarin. Alle erzählen irgend was. Sie redete gegen Pissarius. Sie kannte ihn, aber der Haß war unausgesprochen. „Frau Pissarius ging mit der Nase nach oben“, sagte sie. Diese Nachbarin selbst wäre gerne mit mir in den Film „Männer“ von Doris Dörrie gegangen. Gegen das Geschlecht hatte sie noch eine Rechnung offen. Alle diese unverarbeiteten Erinnerungen. „Mein erster Sohn war eine Vergewaltigung. Der zweite wußte, wie er reinkam.“ Als sie es sagte, standen wir vor dem Lokal von Ernie. Dort hatten sich Ende der sechziger Jahre die Hasch- und Blues-Rebellen getroffen. Ernie kannte Kunzelmann und Baumann und wie sie alle hießen. Später hatte Ernie Alzheimer. Sie begann zu vergessen. Was dann mit ihr geschah, weiß ich nicht. Auch Pissarius wurde älter. Einmal traf ich ihn am Briefkasten, und er sagte mir, daß er einen Brief hatte schreiben wollen, aber daß er nicht mehr gewußt habe, wie die Wörter gingen. Er hatte gemerkt, daß er aufgehört hatte, sich an das Schreiben zu erinnern. In der Eisenbahnstraße gibt es nicht viel. Es ist eine häßliche Straße. Keine Bäume, nichts Grünes, nur die Markthalle zwischendrin. Die hat ihren Glanz längst verloren. Bleibt Wilhelm Leuschner, Widerstandskämpfer, hingerichtet 1944 in Plötzensee. Gegenüber der Markthalle hatte er seine sozialdemokratischen Genossen. Ihm wurde ein Gedenkstein gesetzt. Was aber ist mit dem Mann, dessen überlaute Stimme ich noch im Ohr habe, weil er jahrelang nachts zum Fenster hinausgeschrien hat? Markerschütternd, sein Geschrei. Unverständlich, bis auf ein, zwei Worte. Ich habe sie vergessen. Alle wußten, er hat Schreckliches erlebt. Niemand sprach darüber. Einmal sah ich, wie ihn die Polizei abholte. Er wehrte sich: „Ich bin Widerstandskämpfer!“ „Ja, deshalb holen wir dich“, lachten die Polizisten. Eisenbahnstraße. Seit 20 Jahren wohn' ich da. Über die Straße mein erster Liebhaber. Irgendwann ist er abgereist. Eisenbahnstraße. Keine Gleise. Dafür Erinnerungen. Sonst nichts. Waltraud Schwab