Acht Mann und eine Bewegung

Leben in der Bundesliga (XVI): Beim Tauziehen gewinnen die, die ihre Eisenstiefel in perfekter Harmonie in den Boden rammen. Die Sportfreunde aus Goldscheuer also  ■ Von Frank Ketterer

Das Schauspiel beginnt mit einem lauten Kampfschrei: „Hascha!“ – dann rammen 16 Männer ihre Fersen in den grasbedeckten Boden, nehmen das auf ihren Füßen ruhende Seil in die Hände und beginnen daran zu ziehen, als ginge es um ihr Leben. Köpfe erröten, Adern am Hals treten hervor, 16 Mann, acht auf jeder Seite, beginnen zu stöhnen, so laut, hier, mitten auf der grünen Wiese.

Manchmal dauert das martialisch anmutende Schauspiel nur wenige Sekunden, manchmal ein paar Minuten. Meist aber steht der Sieger schon vorher fest – und heißt Sportfreunde Goldscheuer. Zwei Jahre lang blieben die Tauzieher aus dem Badischen in der Tauzieh-Bundesliga ungeschlagen, in dieser Saison soll nun der dritte deutsche Meistertitel in Folge gelingen, ein Kunststück, daß noch keine Mannschaft fertiggebracht hat.

Die Chancen dafür stehen mehr als gut: Nach sechs von acht Bundesligawettkämpfen führen die Männer aus Goldscheuer, einem Vorort von Kehl am Rhein, mit sechs Punkten vor den Tauziehfreunden Böllen. Das ist ein Vorsprung, der kaum noch einzuholen ist. Die sechs weiteren Mannschaften der Liga hatten von Anfang der Runde an keine Chance auf den Titel, weder gegen Goldscheuer noch gegen Böllen gelang ihnen auch nur ein einziger Sieg.

Warum die Männer aus Goldscheuer so überlegen sind, wird im Wettkampf schnell deutlich und hat keineswegs nur mit roher Kraftmeierei zu tun. „Das Wichtigste ist“, sagt Axel Fien, „daß das Team harmoniert.“ Fien ist Trainer und Ankermann, eine Art Mannschaftskapitän der Goldscheurer. Mit Harmonie meint er: „Acht Mann machen das gleiche zum gleichen Zeitpunkt“; acht Mann ziehen wortwörtlich an einem Strang.

Bei den Sportfreunden wird dies von Coach Kurt Rosa koordiniert. Stellt er die Zeichen erst mal auf Sturm, rammen die acht Männer die eisenbehuften Fersen ihrer Stiefel absolut synchron in den Boden. Schrittchen für Schrittchen stampft es so nach hinten, stets zischeln die starken Männer dazu ein halblautes „Hascha“, was die Sache an eine langsam ins Rollen kommende Dampflokomotive erinnern läßt; „Hascha, hascha, hascha“ – meist werden die Gegner von den Goldscheurern einfach überrollt, zumindest in der Bundesliga. Diese richtet der Deutsche Rasenkraftsport- und Tauziehverband (DRTV) seit 1984 für Mannschaften bis insgesamt 640 Kilogramm aus.

Wer nach acht Wettkämpfen – jede Bundesligamannschaft ist einmal Ausrichter eines Turniers, an dem alle Teams teilnehmen – die meisten Punkte gesammelt hat, darf sich deutscher Meister nennen. Unter der Bundesliga gibt es nur noch die vier Landesligen mit rund 25 Mannschaften, über Auf- und Abstieg wird in einem Relegationsturnier entschieden. Ausgenommen ist der Norden der Republik, dort ist das Ziehen von Tauen als Sport nicht existent.

Die Grundregeln, nach denen national wie international gezogen wird, sind zunächst einmal einfach und nicht viel anders als jene, die früher beim Kindergeburtstag galten: Das Seil, meist aus Hanf gedreht, ist 33,5 Meter lang, an jedem Ende hängen acht Mann und versuchen ihre Gegenüber über die Wettkampfbahn, eine kurzgemähte Wiese, zu ziehen. Wer das vier Meter schafft, hat den Zug gewonnen, es sei denn, er hat einen der insgesamt zehn im Regelwerk benannten Regelverstöße begangen. Darüber wiederum wacht ein Kampfrichter, der verbotene Dinge wie Absitzen, Abstützen, Nachgreifen und Klemmen des Seils mit Verwarnungen bestraft, hat ein Team drei davon kassiert, geht der Zug automatisch an den Gegner.

In der Spitze ist Tauziehen ein eher auf Defensive ausgerichteter Sport. „Oberstes Gebot ist es, keinen Zentimeter Boden zu verlieren“, sagt Axel Fiens älterer Bruder Johannes Fien, der Leiter der Tauziehabteilung bei den Sportfreunden ist. Treffen zwei gleich starke Mannschaften aufeinander, kann es durchaus vorkommen, daß beide minutenlang regelrecht im Seil hängen und auf einen Fehler des Gegners warten. International sind Züge von bis zu zehn Minuten Dauer keine Seltenheit, bei der WM 1996 bekämpften sich Irland und Spanien fast 56 Minuten lang, ehe der Sieger feststand.

Da brennen die Oberschenkel und schmerzt der Rücken, ganz nebenbei werden die Unterarme hart wie Stein. „Neben Technik und Taktik ist die Kraftausdauer der entscheidende Faktor“, sagt Axel Fien, der Trainer, gerade in diesem Punkt sieht er seine Mannschaft gegenüber den anderen Bundesligisten im Vorteil.

Damit dem so bleibt, geht es einmal pro Woche in den vereinseigenen Kraftraum, dreimal wird zudem am Seil geübt, über die Hälfte davon am eigens gebauten Tauziehbock, einem selbstkonstruierten Gerüst, an dem über Rollen bis zu 900 Kilogramm Gewicht auf fast zehn Meter Höhe gezogen werden können.

Alles in allem ist das eine ganz schöne Menge Trainingsmühsal, die die Sportler auf sich nehmen; für wenig öffentliches Interesse und absolut gar kein Geld. Im Gegenteil: Wenn die Sportfreunde aus Goldscheuer Anfang September in Rodchester im US-Bundesstaat Minnesota als deutsche Nationalmannschaft auftreten, müssen sie die Tickets aus eigener Tasche bezahlen.