■ Kennt ihr den Tag, an dem die Tour starb?

Hört mal zu, liebe Kinder, und laßt euch mal erzählen von jenem wunderbaren Sommer, als ein Junge, der Ullrich oder so hieß, mit seinem Ritt hinauf nach Andorra aus Deutschland ein Radsportland gemacht zu haben schien. Nein, da braucht ihr gar nicht so angewidert zu schauen. Man nannte so was damals Hochleistungssport, und speziell die Radfahrer waren zuständig, uns zu begeistern und Vorbild zu sein mit ihren Leistungen, die man damals für heroisch hielt.

Wann das zu Ende ging, wollt ihr Kinder wissen? Laßt einen mal nachdenken. Genau: Nur ein Jahr später. Freitag, 24. Juli 1998 muß das gewesen sein, als die ersten drei Fahrer aus dem Festina-Team Doping eingestanden und bald darauf sagten, sie seien von ihrem Team gezwungen worden. Da lacht ihr heute drüber, Kinder, ist ja klar. Damals war das eine Sensation. An dem Tag passierte noch viel mehr, erst wurde gestreikt, dann doch gefahren. Man hat erst später gemerkt, daß dieser Freitag der Tag war, an dem die Tour de France starb.

Warum sie starb, wollt ihr wissen? Weil das übliche Krisenmanagement der Stigmatisierung von angeblichen Einzeltätern danach beim bestem Willen, auch dem von uns zusehenden Publikum, nicht mehr aufrechtzuerhalten war. Das Problem bestand natürlich schon damals nicht darin, daß gedopt wurde. Das Problem war, daß zu viele so blöd waren, sich dabei erwischen zu lassen.

Danach wußte aber vollends niemand mehr, wie er die Tour sehen, wie er sie verstehen und wie er darüber berichten sollte. Sollte man in jeden Text zum Thema den Werbesatz einblocken: „Jetzt mit Epo!“ Und am nächsten Tag: „Jetzt mit noch mehr Epo“?

Der damals übertragende Fernsehsender, ihr kennt ihn natürlich nicht mehr Kinder, hieß ARD. Man sagte, er habe die Dinge verharmlost und zu sehr schleifen lassen, wegen Verquickung von Geschäftspartnerschaft mit dem deutschen Radteam Telekom und Journalismus. Das stimmte nicht: Es gab keine Verquickung mit Journalismus.

Im Prinzip tat der Fernsehsender nur das, was auch wir Zuschauer bis zu diesem Freitag getan haben wollten: Während in Frankreich die Tour längst nicht mehr als Sportereignis rezipiert wurde, waren wir noch hin- und hergerissen und bereit, alles zu vergessen, sobald dieser Ullrich den Berg hinauffuhr.

Was fragt ihr, Kinder? Ob uns nicht der Gedanke kam, daß es seltsam sei, wenn ausgerechnet die Besten, Telekom, „unser deutsches Team“, wie ein Onkel namens Scharping sie zu nennen pflegte, nicht dopen sollten? Ihr müßt das verstehen, Kinder: Wir wollten doch unser Gefühl vom letzten Sommer zurückhaben!

Zunächst dachte man noch, im nächsten Sommer hätten es alle vergessen, und man könnte man wieder von vorn anfangen. Aber nach diesem Freitag ging es ja sehr schnell, Kinder. Und wenn ihr jetzt vor dem Schlafengehen brav eure Corticoide schluckt und euer Erythropoietin injiziert, erfahrt ihr morgen, wie alles endete. Peter Unfried