Abschied von der Einmischung

Martin Walser träumt in seinem neuen Roman „Ein springender Brunnen“ seine Kindheit. Die Erinnerung an das Vergangene soll nicht mehr erzwungen werden. Das Spätwerk als interesseloses Beobachten  ■ Von Jörg Magenau

Erzählen, wie es war, heißt, dem Vergangenen eine Ordnung beizubringen. Die Vergangenheit ist ein Traum: Sie zu befragen und zu beschreiben zerstört sie und nötigt ihr eine Bedeutung auf. „Man kann nicht leben und gleichzeitig etwas darüber wissen“, schreibt Martin Walser. Aber auch der spätere Blick zurück ist eine Erfindung, jede Autobiographie eine Konstruktion.

Walser hat nie anders als autobiographisch geschrieben, aber er tat es auch nie ohne die Freiheit des Erfindens. Seine Romanfiguren hießen Kristlein, Halm, Zürn oder Dorn und waren doch immer ein Stück von ihm. Schreiben war für ihn stets ein „Entblößungs- Verbergungs-Spiel“, ein Akt der Selbsterkundung und der Selbsterfindung. Ein Schriftsteller, sagte er einmal, ist nur der, der sich schreibend verändert.

Nun legt er einen unverhüllt autobiographischen Roman über seine Herkunft vor. „Ein springender Brunnen“ spielt in drei großen Kapiteln in den Jahren 1932/33, 1938 und 1944/45 in Wasserburg am Bodensee, wo Walser 1927 als Gastwirtssohn geboren wurde.

Im Buch heißt er Johann, und er muß schon als kleiner Junge mithelfen, Kohlen zu schippen und auszutragen – ein kleiner zusätzlicher Verdienst für die Familie neben der kriselnden Gastwirtschaft. Walser erzählt von der Mutter, die in die Partei eintritt, weil sie hofft, daß dann die publikumsträchtigen Parteiveranstaltungen in ihrer Restauration abgehalten werden. Vom früh sterbenden, theosophisch interessierten, wenig geschäftstüchtigen Vater, der hofft, mit einem Magnetisierapparat oder mit Kaninchenzucht viel Geld zu verdienen und der den fünfjährigen Johann schwierige Worte buchstabieren und in seinen „Wörterbaum“ eintragen läßt: Popocatepetl, Rabindranath Tagore, Swedenborg.

So begründet Walser die Spannbreite seiner Biographie zwischen kleinbürgerlichen Untergangsängsten und einem Aufstieg und Ausstieg durchs Künstlertum. Er mißt den biographischen Ursprung aus und sichtet das Material, aus dem sich alle späteren Bücher ergeben. Walsers fortgesetzte Chronik der Bundesrepublik aus kleinbürgerlicher, provinzieller Perspektive wäre nicht vollständig gewesen ohne die Kindheit in den 30er Jahren, und es wird wohl dieser letzte Roman sein, den man in Zukunft zuerst lesen muß, wenn man ihn und sein Werk begreifen will – so wie man die Bundesrepublik nicht ohne ihre Herkunft aus dem Dritten Reich verstehen kann.

„Ein springender Brunnen“ ist jedoch kein Roman über die Nazizeit. Walser will nichts zeigen und nichts beweisen. Nazis kommen so selbstverständlich und selbstbewußt darin vor, wie sie damals in Wasserburg agierten. Das Dorf ist „der Inbegriff der Menschheit“ – nichts Ungewöhnliches für Walser, bei dem stets das Große im Kleinen gezeigt wird, das Allgemeine verborgen im Alltäglichen. Walsers erzählerischer Wunschtraum besteht in dem Paradox, ein „interesseloses Interesse“ an der Vergangenheit entwickeln zu können: „Daß sie uns entgegenkäme wie von selbst“. Er will erzählen ohne eigene Willensregung, die doch bloß zu etwas Erwünschtem führen würde. Er möchte „entgegennehmen“, möchte „bereit bleiben“. Seine Erinnerungen sollen sich von ganz alleine einstellen. Dann, nur dann könnte sich so etwas wie eine von späteren Bedeutungen unverstellte Wahrheit ergeben. Denn es ist ja klar, daß das, was ist, sich immer fundamental von dem unterscheidet, was es später einmal gewesen sein wird.

„Ein springender Brunnen“ ist ein Spätwerk: nicht nur, weil es die eigene Kindheit ist, die da wie von selbst entgegenkommt, sondern weil alles erzählt wird aus der Position des „Es ist vorbei“. Das bedeutet nicht nur, daß es längst vergangen ist, sondern daß der Erzähler sich nicht mehr einmischen will. Ein alter Mann träumt seine Jugend. Walser nimmt seiner Vergangenheit gegenüber dieselbe Haltung ein, die er in den vergangenen Jahren auch gegenüber der Gegenwart der neuen Bundesrepublik mehr und mehr praktizierte: ein stilles Beobachten, ein Rückzug, ein Sich-Enthalten, ein Vertrauen auf die emotionale Gestimmtheit und ein Mißtrauen gegenüber mediengerechten Meinungen. Weil er allzu viele erlebt hat, die ihre Vergangenheiten je nach Bedarf umschrieben und sich passende Teilstücke zusammensuchten wie eine neue Garderobe, möchte er seine – und damit auch die deutsche – Vergangenheit ohne Rechtfertigungsmotiv betrachten. Keine Vergangenheitsbewältigungsliteratur also, sondern ein interesseloses Interesse am Nationalsozialismus.

Die alltägliche Gewalt, Ausgrenzung und Verfolgung wird dabei nicht verschwiegen, aber sie erscheint nicht im Koordinatensystem von Schuld und Sühne. Ganz beiläufig tauchen an einer Stelle „die Dachauer“ in ihren gestreiften Anzügen aus der Erinnerung auf und daneben das Gesicht der Mutter, die „Pscht“ macht und ein seltsames Gesicht. Und als der August aus dem Wanderzirkus, der sich über den Hitlergruß und die 99,7 Prozent österreichischer Ja- zum-Reich-Stimmen lustig macht, grün und blau geschlagen vor seinem Wagen liegt, will wieder niemand im Dorf über den Vorfall sprechen. Und Johann denkt nur an das Mädchen Anita aus dem Zirkus, in das er sich verliebt hat.

Die ehrgeizlose Aufrichtigkeit, das demonstrativ undemonstrative Erzählen ist so wohl erst mit der historischen Distanz des Epochenbruchs von 1989 möglich. Der Nationalsozialismus rückt gewissermaßen in den Hintergrund und erhält dadurch Tiefenschärfe. Es geht hier nicht um Geschichtsschreibung, sondern um die Rekonstruktion der Gegenwart. Das unterscheidet „Ein springender Brunnen“ von ähnlich gelagerten Vorgängern – etwa vom Roman des Altersgenossen Ludwig Harig, „Weh dem, der aus der Reihe tanzt“. Der war, 1990 erschienen, noch ganz der alten, vergangenheitsbewältigenden Bundesrepublik verhaftet, indem er die eigene ideologische Verblendung und Hitlerjugendbegeisterung erinnerte, wiederholte, durcharbeitete.

Walser arbeitet nichts ab. Er erzählt, wie es war. Aber gibt es so etwas überhaupt, ein entfunktionalisiertes Erinnern? Warum schreibt man dann noch und teilt etwas mit, anstatt einfach nur zu träumen? Walser kann gar nicht anders. Schreiben ist seine Art, auf das Leben zu antworten. Er weiß ja, daß die „Interesselosigkeit“ bloß ein Wunschtraum ist. Und selbstverständlich destillieren sich rasch strukturierende Elemente heraus: die Nöte des Erwachsenwerdens, die Entdeckung der Sexualität und die Suche nach einer eigenen Sprache und schriftlichem Ausdruck. Auch das ist ein immer wiederkehrendes Motiv in Walsers Werk – vielleicht deshalb, weil es für einen seiner Herkunft so ein sonderbarer, unvorhergesehener Beruf ist. Der Roman ist auch die retrospektive Erkundung eines Schriftstellers, wie er zum Schreiben kam: vom Wörterbaum des Vaters über die lyrischen Ergüsse der Pubertät bis hin zum poetologischen Schlußbekenntnis: „Wenn er anfängt zu schreiben, soll schon auf dem Papier stehen, was er schreiben möchte. Was durch die Sprache, also von selbst aufs Papier gekommen wäre, müßte von ihm nur noch gelesen werden. Die Sprache, dachte Johann, ist ein springender Brunnen.“

Der Roman ist nicht frei von Sentimentalität. Es geht ja darum, das, was nicht mehr ist, in der Erinnerung zu rekonstruieren und zu bewahren: eine Heimatsuche. Johann, der im Baum steht und Äpfel pflückt. Johann, der mit Anita sein erstes Rendezvous organisiert und ihr, scheu und schüchtern, zwei Abziehbilder auf die Oberschenkel klebt: einen Vulkan – vielleicht der Popocatepetl – und einen Walfisch. Johann, der zuhört, wie sein älterer Bruder Josef im Nebenzimmer Klavier übt, Josef, der später aus Rußland nicht zurückkommen wird. Johann, der mit dem „Zarathustra“ im Tornister die letzten Kriegsmonate bei den Gebirgsjägern verbringt. (In Zarathustras „Nachtlied“ findet sich auch die titelgebende Zeile „Meine Seele ist ein springender Brunnen“). Auch auf der sprachlichen Ebene wiederholt sich das konservative Programm des Bewahrens. Da holt Walser dialektale Worte aus der Vergessenheit und widmet ihnen eigens ein Nachwort – Worte wie „ring“, „lampen“ oder „gumpen“, die ausgestorben sind, ohne daß es adäquaten Ersatz dafür gäbe.

Aber all die Erinnerungsbilder tauchen so voller Sehnsucht auf, daß sie zugleich auch eine Heimsuchung sind und im Erzähler der Verdacht entsteht, „das Vergangene dränge sich nur auf, damit man unter seiner Unwiederbringlichkeit leide. Solange man es noch vor Augen hat, schaut man nicht hin, so ausgefüllt ist man von Sekunde zu Sekunde von Erwartungen, von denen man nichts mehr weiß. Wahrscheinlich lebt man gar nicht, sondern wartet darauf, daß man bald leben werde; nachher, wenn alles vorbei ist, möchte man erfahren, wer man, solange man gewartet hat, gewesen ist.“ Vor dieser sentimentalischen Übermacht kapituliert Walsers interesseloses Interesse an der Vergangenheit. Das verpaßte Leben im Erinnern nachzuholen, ist der Motor seines Schreibens. Dabei ist ihm klar, daß er es im Erinnern erneut verpaßt und verfälscht. Es geht eben nicht anders.

Martin Walser: „Ein springender Brunnen“. Suhrkamp Verlag, Frankfurt/Main 1998, 416 Seiten, 48 DM